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Salome Kammer in der szenischen Uraufführung von Brice Pausets „Exercices du silence“. Foto: Thomas Aurin, Staatsoper Berlin
Salome Kammer in der szenischen Uraufführung von Brice Pausets „Exercices du silence“. Foto: Thomas Aurin, Staatsoper Berlin
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„Des Schweigens Herrin“ mit Stahlstange: Brice Pausets „Exercices du Silence“ an der Staatsoper Berlin

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Bei Exercises denken Theaterleute spontan an die täglichen Übungen des Balletts, und so lag es wohl für Intendant Jürgen Flimm nahe, die szenische Uraufführung dieser Oper einer Choreographin anzuvertrauen. Reinhild Hoffmann entkleidete die Handlung ihres Ekelfaktors und setzte auf ästhetische Reduzierung in der starken Körpersprache der Protagonistin Salome Kammer und ihres Pianisten Benjamin Kobler.

Beim Schweigen aber denkt der Musiker gerne an Wagner – an die von Tristan als „Des Schweigens Herrin“ apostrophierte Isolde – oder auch an Schrekers „tönendes Schweigen“. Derartige Assoziationen vermochte die Staatsopern-Premiere der vierzehn Stationen für Stimme, Klavier und Elektronik durchaus einzulösen.

Der 1965 in Besançon geborene Brice Pauset, seit 2008 Professor für Komposition an der Musikhochschule in Freiburg im Breisgau, hat das Libretto zu seinem Monodram „Exercices du Silence“, primär nach Briefen von Louise du Bellère du Tronchay (1639-1694) selbst collagiert. Die Aufzeichnungen dieser jungen Adeligen, die sich in geistiger Entrückung selbst Louise du Néant, also Louise von Nichts, nannte, gelten als radikalste Selbstzeugnisse für Kasteiung und Erniedrigung: besonders gern leckte und küsste Louise stinkende Wunden und vermengte ihre Speise mit dem Schmutz des Fußbodens der Pariser Anstalt Salpêtrière.

Einen wichtigen Stellenwert in Pausets Libretto nimmt aber auch Jean Genets Text über den Seiltänzer ein, der im Kontext der exaltierten jungen Frau als geistlicher Seiltänzerin auch dramaturgische Parallelen zum mittelalterlichen Mirakelspiel „Le Jongleur des Notre Dame“ und zu den Vertonungen durch Jules Massenet und Peter Maxwell Davies schafft.

Pausets Partitur lebt vom Gegensatz kammermusikalischer Effekte, der singenden, gurrenden und bloße Konsonanten spuckenden Sprech-Singstimme und Klavier einerseits und der Elektronik zum anderen. Einspielungen und Livemischungen mit dem Echo der Singstimme schaffen in der Überlagerung bisweilen eine Steigerung ins Chorische und quasi Orchestrale. Das gemeinsame Auftragswerk des IRCAM-Centre Pompidou und des Festival d'Automne à Paris hatte seine konzertante Uraufführung 2008 an der Opéra national de Paris. Auch in der Berliner Produktion wird die Elektronik vom Musikinformatiker Olivier Pasquet, dem Toningenieur Maxime Le Saux und dem Komponisten selbst gesteuert.

Der rhythmische Verlauf seiner Partitur ergibt sich für Brice Pauset durch die von der Autorin bei der Variation ihrer Kasteiungen vorgenommene Nummerierung. Louises fortschreitende Psychose zeichnet eine Sammlung an ausgewählten Geräuschen, vom Rauschen und Knirschen, bis hin zum Erbrechen und Ersticken. Komische Momente sind dabei keineswegs ausgeschlossen, mit einer Stimmenvielfalt aus dem Äther-Mix und Jesus als „Telefonstimme“. Und in der „Scène des follies“ sequenziert das Klavier mit tonalen Doppelschlägen. „Silence“ ist also auch in Pausets Musik ein äußerst beredtes Schweigen.

Die Ausstattung des bildenden Künstlers Mark Lammert beschränkt sich in der Werkstatt des Schiller-Theaters, das der Staatsoper seit Anfang dieser Saison als Interimsdomizil dient, auf zwei Flügel im leeren, schwarzen und weißen Raum, auf ein rotes Seil und auf eine Rutschstange. Reinhild Hoffmann, nach dem Tod von Pina Bausch zur bedeutendsten Choreographin der ersten Generation des deutschen Tanztheaters aufgerückt, betont in ihrer bogenförmigen Inszenierung die Übungskraft der Exerzitien in dem vom Komponisten selbst intendierten Bild des Seiltänzers.

Die erotische Komponente rückt dabei stark in den Vordergrund des Geschehens, wenn die netzbestrumpfte Louise die Eisenstange leidenschaftlich an sich schmiegt oder das rote Seil genüsslich durch ihren Schritt gleiten lässt. Zunächst hatte sie sich als Adelige im Pelz auf dem Flügel in der oberen Etage geräkelt, später liegt und zuckt sie zumeist auf der Erde, während der Klangerzeuger im letzten Drittel selbst die belle Etage in Beschlag nimmt. Benjamin Kobler exerziert, präpariert und traktiert die beiden Flügel, ist aber auch als Ansager ins Spiel integriert und dirigiert Louise mit Eisenstange und Zeigestab.

Das Libretto in deutscher und französischer Sprache ist im Programmheft nachzulesen. Doch ohne Übertitelung ist der vielfach in seine Konsonanten zerhackte Text des französischen Originals während der Aufführung nur schwer nachvollziehbar, obgleich die Sopranistin Salome Kammer perfekt artikuliert. Überhaupt lebt die Aufführung von der Ausstrahlungskraft dieser in Kabarett, Schauspiel und zeitgenössischem Musiktheater gleichermaßen erfolgreichen Künstlerin, die neben den geforderten, extremen stimmlichen Ausdrucksmitteln höchst intensiv agiert und selbst an der Kletterstange, mit nach hinten gebeugtem Oberkörper, mühe- und makellos ein lang ausgehaltenes, zweigestrichenes A bewältigt.

Als „politische Dimension“ (so Laurent Feneyrou im Programmheft) dienen Brice Pauset klangliche Raumverschiebungen. Auf solche Weise räumlich desorientiert, soll der Zuschauer die Zustände der zweifelhaften Heldin besonders intensiv mit- und nachvollziehen. Tatsächlich folgte das Publikum, mal erheitert, mal angespannt, der mit Mitteln des Tanztheaters ästhetisierten Ekelhandlung und geizte nach der szenischen Uraufführung im ausverkauften Haus nicht mit Zuspruch.

Weitere Aufführungen: 20., 21., 22., 23. Januar 2011

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