Gerade ist André de Ridder (geboren 1971) von Berlin nach Freiburg umgezogen. Mit Philip Glass‘ „Einstein on the Beach“ am Theater Basel und Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ an der Staatsoper Stuttgart hatte er bis zur Sommerpause noch zwei große szenische Produktionen dirigiert. Zeit zur Erholung bleibt dem neuen Freiburger Generalmusikdirektor nicht, denn seine mit Spannung erwartete erste Spielzeit steht an. Georg Rudiger sprach mit ihm darüber, was er am Freiburger Theater vorhat.
Bisher waren Sie freischaffender Dirigent und haben an großen Opernhäusern wie der Staatsoper Stuttgart und dem Theater Basel, aber auch mit internationalen Toporchestern wie dem Chicago Symphony Orchestra oder dem Concertgebouw Orchestra in Amsterdam gearbeitet. Warum möchten Sie Generalmusikdirektor werden?
André de Ridder: (Lacht). Diese Frage wurde mir auch beim Bewerbungsgespräch gestellt. Nach zwanzig Jahren freier Tätigkeit als Dirigent und Festivalleiter will ich gerne an einer zentralen Institution arbeiten. Ich möchte langfristig etwas bewegen und in einen echten Dialog mit dem Publikum kommen.
Und warum Generalmusikdirektor in Freiburg?
Zum einen fasziniert mich die Stadt – diese Mischung aus toller geographischer Lage und einem reichen kulturellen Angebot. Zum anderen interessiert mich dieses Stadttheater, das ein 3-Sparten-Haus ist und viele Möglichkeiten bietet. Ich arbeite gerne im Team, ich mag Kollaborationen. Und ich liebe spartenübergreifende Projekte, mit denen man Grenzen überschreiten und auch unterschiedliche Zuschauergruppen zusammenbringen kann. Das Freiburger Theater steht an einer ganz zentralen Stelle in der Stadt – daran kommt man nicht vorbei. Das meine ich aber auch im übertragenen Sinn. Es reizt mich, als Generalmusikdirektor in Kontakt zu treten mit der Stadtbevölkerung.
Wie haben Sie das Freiburger Theater aus der Ferne wahrgenommen, bevor Sie sich um die GMD-Stelle beworben haben?
Schon während der Intendanz Barbara Mundels habe ich das Haus oft überregional wahrgenommen. Seit Peter Carp arbeitet man hier mit spannenden internationalen Regisseurinnen und Regisseuren zusammen. Dass man an diesem Haus vor einigen Jahren einen veritablen „Ring des Nibelungen“ stemmen konnte, ist mir ebenfalls nicht entgangen. Mit Marek Janowksi und Donald Runnicles, die ich beide von Berlin gut kenne, hat das Freiburger Theater in seiner Historie auch Dirigenten am Beginn ihrer Laufbahn angezogen, die später eine große Karriere gemacht haben. Meine musikalische Karriere hat allerdings nicht an einem Opernhaus angefangen, sondern ich war von Anfang an vielseitig unterwegs, vor allem mit spartenübergreifenden Produktionen.
Haben Sie sich mit Ihrem Vorgänger Fabrice Bollon über das Freiburger Theater und das Philharmonische Orchester ausgetauscht?
Natürlich haben wir uns unterhalten. Fabrice Bollon wechselt in der gleichen Position nach Halle. Diese Stadt kenne ich ganz gut, mein Sohn studiert dort. Vielleicht treffen wir uns dort mal im Opernhaus, wenn ich meinen Sohn besuche. Über das Freiburger Ensemble und das Philharmonische Orchester habe ich ganz bewusst nicht gesprochen, um völlig unvoreingenommen meine Arbeit beginnen zu können – wie auf einem weißen Blatt Papier. Auch wenn ich ein Werk neu einstudiere, höre ich mir vorher keine Aufnahmen dazu an, sondern lese nur die Partitur.
Sie starten mit einem ambitionierten Opernspielplan, der bis auf den „Freischütz“ zu Beginn, einer mehrfach geschobenen Produktion, auf echte Blockbuster verzichtet. Kein Mozart, kein Verdi, kein Puccini, sondern Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in Patria“, Nico Muhlys „Marnie“, Alban Bergs „Wozzeck“ und Kurt Weills „Dreigroschenoper“ sowie drei Uraufführungen. Haben Sie keine Angst davor, dass das Publikum den Weg nicht mitgeht?
Die Blockbuster werden schon noch kommen, aber in der ersten Saison möchte ich ohne kommerzielle Zwänge programmieren. Wir hätten kein vielgestaltigeres, aufregenderes Programm wählen können. Dafür werde ich auch beim Publikum werben. Außerdem sind mit den Wiederaufnahmen der großartigen „Madame Butterfly“, der erst wenig gespielten „Macbeth“-Produktion und von „Le Nozze di Figaro“ einige sehr bekannte Opern im Programm. Alban Bergs Oper „Wozzeck“, meine erste Premiere am 26. November 2022, ist ein echter Herzenswunsch von mir.
Haben Sie die Oper schon dirigiert?
Die sinfonischen Fragmente habe ich schon dirigiert, die Oper noch nicht. Aber ich habe mich mit diesem fantastischen Werk schon intensiv in meiner Studienzeit auseinandergesetzt. Der Stoff ist vielen bekannt – da kann man sich ganz auf die Musik einlassen. Wie Alban Berg das Originalstück von Georg Büchner mit Formenstrenge und höchster Expressivität zum Klingen bringt, das beeindruckt mich immer wieder neu. Auch bei Nico Muhlys „Marnie“, das wir am 14. Januar 2023 als deutsche Erstaufführung präsentieren, ist die Handlung durch die legendäre Hitchcock-Verfilmung von 1964 vielen vertraut. Nico Muhly, den ich persönlich gut kenne, ist sozusagen ein Enkel von Philipp Glass und Steve Reich. In seinem Postminimalismus hat Muhly eine eigene, erkennbare Sprache entwickelt. Für mich steht er genau zwischen John Adams und Benjamin Britten. Seine Musiksprache ist zugänglich und theatralisch zugleich. Wozzeck und Marnie lassen in ihrem eigenen Kopf Welten entstehen und leben ihre Psychosen aus. Das gilt auch für Odysseus, dem ich mich in meiner dritten Premiere widme.
Das wird Claudio Monteverdis 1640 uraufgeführte Oper „Il ritorno d’Ulisse in Patria“ am 8. Juli 2023 sein. Werden Sie das mit dem Philharmonischen Orchester spielen?
Wir werden sicherlich einige Originalinstrumente dabeihaben – ich selbst habe Barockvioline studiert – aber ich finde es wichtig, dass man auch mit einem modernen Sinfonieorchester auf eine aufregende Art und Weise alte Musik spielen kann. Wir haben uns inzwischen so an das Klanggewand der historischen Aufführungspraxis gewöhnt, dass diese Art zu spielen schon wieder zu dogmatisch geworden ist. Die Geschichte, die in dieser Oper nach der „Odyssee“ von Homer erzählt wird, ist mit den Themen Vertreibung, Flucht und Verlust der Heimat heute sehr aktuell.
Was ist für Sie gutes Musiktheater?
Wenn man versteht, warum man in der Oper singt anstatt zu sprechen. Gutes Musiktheater fügt einer Geschichte immer eine weitere Ebene hinzu und hilft zu einem emotionalen oder auch intellektuellen Zugang.
Sie haben vor acht Jahren ein Künstlerkollektiv namens „Stargaze“ (in die Sterne schauen) gegründet, das demokratisch organisiert ist und meistens nicht nach Noten spielt, sondern improvisiert. Nehmen Sie davon etwas mit in die Arbeit mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg?
Wir beschäftigen uns in diesem Kollektiv mit ganz unterschiedlichen Arten von Musik und komponieren auch selbst Musikstücke zu bestimmten Projekten. Wir treffen auch mal auf eine Rockband und kombinieren unsere zeitgenössischen Stücke mit jenen der Band. Das war für mich die Blaupause für den „Freiburg.Phil.Club“, den wir in der kommenden Saison mit vier Konzerten einführen. Beim ersten Konzert laden wir die Hamburger Band 1000 Robota ins Kleine Haus ein. Das Philharmonische Orchester wird zur Vorband. Gemeinsam spielen wir eine 20-minütige Version von „Autobahn“, dem großen 70er-Jahre-Hit der Band Kraftwerk. Danach stellt 1000 Robota ein Tag nach dem Erscheinen ihr neues Album vor. Ich moderiere diese Konzerte, die auch im Jazzhaus und im Slow Club stattfinden.
Das Konzertprogramm steht unter dem Motto Creation/Extinction, also Schöpfung und Auslöschung. Was bedeutet das gegensätzliche Motto?
Es hat verschiedene Bedeutungen. Insgesamt geht es mir um die gesellschaftliche Relevanz von Kultur, die ja auch in der Coronapandemie sehr diskutiert wurde. Auf die Programmidee bin ich durch den Wunsch des Philharmonischen Orchesters gekommen, auch wieder einmal klassische Oratorien zu spielen. Mit der Ouvertüre zu „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn beginnen wir die Konzertsaison, mit dem vollständigen Oratorium beenden wir sie. Dabei kombinieren wir das Werk mit Liza Lims Komposition „Extinction events and dawn chorus“, die sich mit der zerstörerischen Ansammlung von Plastikmüll in den Meeren auseinandersetzt. Auch die fünfte und sechste Sinfonie von Ludwig van Beethoven ist ein Gegensatzpaar, das wir an einem Konzertabend programmieren. Beschleunigung in der Schicksalssinfonie trifft auf Entschleunigung der „Pastorale“.
Zu diesem Konzert gibt es laut Saisonvorschau noch einen Kommentar des Philosophen Markus Gabriel.
Wir bringen die Werkeinführung mitten ins Konzert. Beethoven war ein Kind der Kantschen Aufklärung, Markus Gabriel ist ein Vertreter der neuen Aufklärung. Sein jüngstes Buch heißt „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“. Beim neuen Konzertformat der Podcastkonzerte können wir noch weitergehen. Wir stellen mit dem Orchester Teile der Musik vor, sprechen über Wirkung und Zusammenhänge, auch mit dem Publikum
Nachdenken über Musik?
Ja, aber nicht pädagogisch verstanden. Durch gewisse Gedanken oder philosophische Ideen ändert sich das Hören – das finde ich spannend. Mir geht es immer um die Musik, nicht um politische Forderungen.
Aber wenn sie jetzt ein Stück spielen, das sich speziell mit der Verschmutzung der Meere auseinandersetzt, dann steckt doch auch eine politische Dimension dahinter. Und auch eine Aufforderung an die Zuhörer, über das Thema nachzudenken und sich dafür zu sensibilisieren.
Sensibilisierung ist genau das richtige Wort. Darum geht es mir. Ich lasse in den Konzerten Kontraste aufeinanderprallen. Bei Haydn wird die Schönheit der Natur gepriesen, bei Lim von deren Zerstörung berichtet. Die Musik von Liza Lim ist trotzdem schön, aber sie erzählt von der Zerbrechlichkeit der Natur. Im ersten Sinfoniekonzert am 15. November 2022 trifft Igor Strawinskys Tanz der Erde „Le Sacre du Printemps“ auf das fragile, magmaartige Werk „Catamorphosis“ der Isländerin Anna Thorvaldsdottir. Richard Strauss‘ Alpensinfonie wird beim 4. Sinfoniekonzert am 14. Februar 2023 mit Judith Weirs „Natural History“ für Sopran und Orchester kombiniert, das sich mit fernöstlicher Naturphilosophie auseinandersetzt.
Am 18. September 2022 gibt es ein Willkommenskonzert, das Sie dirigieren werden. Was erwartet das Publikum da?
Das möchte ich noch nicht verraten, aber es sind alles Werke, die mit mir und meinem musikalischen Leben zu tun haben. Maurice Ravels Bolero ist bei diesem von mir moderierten Konzert dabei. Und ein Werk wird das Saisonthema creation/extinction durch eine junge Komponistin thematisieren. Dabei wird auch eine europäische Erstaufführung zu hören sein. Ich werde mit dem Philharmonischen Orchester gerade zwei Tage geprobt haben. Für die Freiburgerinnen und Freiburger ist dieses Konzert auch eine Möglichkeit, uns beim Kennenlernen zuzuschauen.
Die Coronapandemie hat besonders auch das kulturelle Leben eingeschränkt. Jetzt fehlen nach wie vor Teile des Publikums, obwohl wieder alles möglich und das musikalische Angebot groß ist. Haben Sie eine Erklärung dafür? Ist Musik und Kultur im Allgemeinen doch nicht so relevant für das Leben einer Gesellschaft, wie in der Pandemie behauptet wurde?
Ich glaube schon, dass Kultur sehr relevant für eine Gesellschaft ist, aber Kultur ist ein weit gefasster Begriff. In der Pandemie haben die Streamingdienste geboomt. Diese aufwändigen Filmproduktionen wie die von Netflix, in denen oft auch die Musik eine große Rolle spielt, sind zumindest in Teilen auch sehr hochwertig. Ich glaube, dass in der Pandemie nicht weniger Kultur genossen wurde, sondern nur auf eine andere Weise. Im Augenblick ist das Klassikpublikum, das im Durchschnitt relativ alt ist, aus einer gewissen Ängstlichkeit heraus noch zurückhaltend. Bei Popkonzerten, die eher von jungen Menschen besucht werden, ist die Nachfrage dagegen sehr groß. Wir müssen auch als Klassikveranstalter neue Angebote machen. Das beste Beispiel ist die Summer Stage, die auch in diesem Jahr auf dem Theatervorplatz ausgezeichnet aufgenommen wurde. Wir haben mit diesen kostenlosen Konzerten auch rund 500 neue Newsletterabonnenten gewinnen können, die sich für das Angebot des Freiburger Theaters interessieren.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Auf das fantastische Solistenensemble und die Arbeit mit dem Philharmonischen Orchester. Mit Menschen gemeinsam etwas auf die Beine stellen, was andere Menschen bewegt – das ist meine größte Freude.
Und wovor haben Sie den größten Respekt?
Vor der Routine. Ich möchte die notwendige administrative Arbeit in eine gute Balance bringen mit der künstlerischen – das wird nicht einfach sein. Vor dieser Aufgabe habe ich den größten Respekt.
Was wünschen Sie sich für Ihre erste Spielzeit?
Dass ich möglichst schnell mit dem Publikum in Kontakt komme und spüre, was die Menschen in Freiburg bewegt. Und ich wünsche mir natürlich, dass zumindest ein paar unserer neuen Angebote und Ideen angenommen werden.
- Willkommenskonzert des Philharmonischen Orchesters Freiburg unter André de Ridder am 18. September 2022 um 18 Uhr im Theater Freiburg, Großes Haus.