Für Georg Friedrich Hegel war klar, dass die Musik zur Architektur, „obwohl sie derselben entgegengesetzt ist, dennoch in einem verwandtschaftlichen Verhältnis“ stehe. Für Iannis Xenakis war dieser Gedanke Realität. Als Le Corbusiers Assistent entwarf er den Philips-Pavillon für die Brüsseler Weltausstellung 1958 anhand der gleichen hyperbolischen Kurven, die seiner Komposition „Metastasis“ zugrunde lagen. Eine von der Bayerischen Architektenkammer übernommene Ausstellung im Sendesaal-Foyer des Hessischen Rundfunks im Rahmen der „cresc“ genannten Klangbiennale zeigt neben einem biografischen Abriss und einem maßstabgetreuen Modell Material zum Philips-Pavillon, der nach der Weltausstellung wieder abgerissen wurde.
Die Tatsache, dass in den Selbstverständigungs-Diskursen der Musik heute der Raum als philosophischer Topos, als aufführungspraktische Voraussetzung, als Gebilde aus Projektionen und Konventionen allgegenwärtig ist, geht also nicht zuletzt auf Xenakis zurück, den das „cresc“-Festival in den Fokus rückte.
Die Rhein-Main-Region ist mit zeitgenössischer Musik ohnehin nicht schlecht versorgt. Die jetzt erstmals veranstaltete Biennale entstand in einer Kooperation gewichtiger Institutionen wie dem Hessischen Rundfunk, dem Ensemble Modern, dem Institut für Zeitgenössische Musik an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt sowie dem Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der sich einer Ent-Kommunalisierung des Kulturbetriebs verpflichtet hat. In der gemeinsamen Biennale konnten sich Erwartungen, Potenzen und Publikums-Segmente der einzelnen Institute zueinander addieren, ästhetische Möglichkeiten miteinander multiplizieren.
Das Symposium „Xenakissplitter“ unternahm eine diskursive Auseinandersetzung mit dem komponierenden Philosophen, Mathematiker und Weltentwerfer, fächerte die formalen, maschinellen und plastischen Aspekten in Xenakis’ Auffassung vom Komponieren sowie seinen musikrelevanten Raumbegriff auf, versuchte philosophische Verortungen und ließ gelegentlich fast mythische Orientierungen gerade in Xenakis’ algorithmischen Kompositionsverfahren aufleuchten.
Der performative Teil des Festivals war hochkarätig bestückt und umsichtig kuratiert und thematisierte Xenakis im Kontext seiner Zeit mit Zeitgenossen wie Varèse, Messiaen, Stockhausen, Carter. Zum Sinfonieorchester und der Bigband des Hessischen Rundfunks, dem Ensemble Modern und den Musikern und Komponisten der Internationalen Ensemble Modern Akademie gesellten sich das Pariser Ensemble Intercontemporain und das famose Jack Quartet aus New York.
Ein Konzert mit der geballten Klangkompetenz des HR-Sinfonieorchesters und des Ensemble Modern stellte Xenakis’ „Terretektorh“ (1965) für 88 im Publikumsraum verteilte Musiker, neben Stockhausens vertrackte Komposition „Gruppen“ (1955-57) für drei Orchester (und die drei Dirigenten Matthias Pintscher, Lucas Vis und Paul Fitzsimon). Ort der Handlung war die Böllenfalltorhalle in Darmstadt, die einen in der Neuen Musik wohlvertrauten Großturnhallen-Charme ausstrahlt.
Im Club 603qm präsentierte Reinhold Friedls „Xenakis (a)live“ ein synästhetisches Film-Musik-Projekt mit den Ensemble zeitkratzer und dem Live-Video-Künstler Lillevan. Das Jack Quartett stellte erstaunlich vital und virtuos Streichquartette von Xenakis („Tetora“, 1990, und „Tetras“, 1983) neben Quartette von Ligeti und Scelsis und zeichnete nebenbei ein mehrpoliges konzeptionelles Spannungsfeld in der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In die Zukunft wies das Abschlusskonzert im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Das Ensemble Modern präsentierte hier sechs Uraufführungen aus einem Kompositionsseminar der Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) unter der musikalischen Leitung von Pablo Rus Broseta und Johannes Kalitzke und mit der essentiell wichtigen Klangregie Norbert Ommers. Sechs Uraufführungen fügten sich zu einem Panoptikum von Musik internationaler Provenienz und darin eingelassenen Weltbildern, Kunst-, Klang- und Raum-Konzepten – als hätte sich im Werk und in der Gedankenwelt Xenakis’ die Energie eines Urknalls versammelt gehabt, die bis heute Antrieb aktueller Bewegung ist.
Es wird nicht leicht sein, in zwei Jahren in der Region wieder ein ähnlich perspektivreiches Festival zu haben.