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Ende September fand im Sendesaal Bremen das Gründungskonzert des Syrian Expat Philharmonic Orches­tra statt.  Foto: Rolf Schöllkopf
Musikerin des Syrian Expat Philharmonic Orchestra. Foto: Rolf Schöllkopf
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Die integrative Kraft der Musik – Konzert des „Expat Philharmonic Orchestra“ in Rostock

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Manchmal übersteigen klassische Konzerte die ästhetische Selbstgenügsamkeit und gewinnen unmittelbar soziale Realität. Meist nicht nur dadurch, wie in ihnen musiziert wird, sondern eher dadurch, was und unter welchen Umständen musiziert wird. Von solcher Art war eine Aufführung von Beethovens „Neunter“ am Freitag vergangener Woche in der Rostocker Konzertkirche St. Nikolai, die zu einem denkwürdigen politischen Ereignis im kulturellen Gewand wurde, platziert im Problemfeld von „Flüchtlingskrise“ und Zuwanderer-Integration.

Die Geschichte dieses Konzertes begann im vorigen Jahr, als in Bremen das Syrian Expat Philharmonic Orchestra gegründet wurde und im September bei seinem Debütkonzert im Bremer Sendesaal unter der Leitung von Martin Lentz, dem Leiter des Jugend-Sinfonie-Orchesters Bremen Nord, gefeiert wurde. Sein Gründer war der in Bremen lebende syrische Kontrabassist Raed Zabeh, der 30 syrische expatriierte Musiker aus Deutschland und Europa versammelte, die ihre Heimat zumeist wegen des syrischen Bürgerkrieges verlassen haben. Die Absicht war eine zweifache: Einmal, wie Zabeh sagte, „den Menschen ein anderes Bild von Syrien zu zeigen, jenseits von Krieg und IS“, ein Bild, mit einem aus europäischer und syrischer Musik gemischtem Programm, zu geben von der syrischen Musikkultur, als sie noch unbeschädigt war. Denn viele dieser Musiker hatten am Konservatorium in Damaskus studiert oder gemeinsam im Syrian National Symphony Orchestra gespielt.

Zum anderen eine interne Vernetzungsmöglichkeit für die in der Migration verstreuten syrischen Musiker zu schaffen, ihnen eine neue musikalische Heimat zu ermöglichen. „Viele dieser Musiker“, so meint Björn Luley, ehemals Leiter des Goethe-Instituts in Damaskus, „irren nun in Europa umher und haben kaum Gelegenheit, ihre Instrumente weiter zu spielen. Ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Beruf weiter auszuüben und anerkannt zu werden, ist ganz, ganz wichtig!“ Was die Geigerin Hiuran Mirkhan, die ebenfalls in Bremen lebt, bestätigte: „Wir haben uns alle so lange nicht gesehen. Es ist einfach unglaublich emotional, was hier passiert“; oder die in Frankreich lebende Michella: „Ich kann kaum glauben, dass wir uns nach so vielen Jahren wiedergefunden haben. Während der Proben fühle ich mich, als wäre ich wieder in Damaskus. Das ist sehr berührend.“

Von dieser Initiative erfuhren zwei Berliner, der Dirigent Julien Salemkour, mehr als ein Jahrzehnt Assistent von Barenboim an der Berliner Lindenoper, und die renommierte Sopranistin Barbara Krieger. Und sie beabsichtigten ein gemeinsames Konzert mit dem Syrian Expat Philharmonic Orchestra, um ein Zeichen zu setzen gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein integriertes Miteinander. „Wir wollten“, so sagte Barbara Krieger, „gemeinsam etwas mit Zuwanderern tun, und nicht nur für sie; mit der integrativen Kraft der Musik.“ Und nichts schien ihnen geeigneter dafür als Beethovens Sinfonie Nr. 9, der große Brüderlichkeitsgesang, das Flaggschiff der deutschen Musikkultur, dessen finales Hauptthema ja auch die, wenn auch textlose, Europa-Hymne ist, aufgeführt von zugewanderten Musikern als gelebte, musizierte Integration – gleichsam als musikalisches Gegenbild zum IS-Terror, zu den Bildern vom Kölner Hauptbahnhof und den Brandstiftungen an Flüchtlingseinrichtungen.

Aber in Berlin fanden sie wenig Interesse und wandten sich daher an Rostock, zumal sie dort schon im Oktober zum Vereinigungsjubiläum die „Neunte“ mit der Norddeutschen Philharmonie Rostock aufgeführt hatten. Die Hansestadt griff das ehrgeizige Projekt sofort auf. „Wir ziehen das durch!“, hatte deren Oberbürgermeister Roland Methling gesagt und förderte tatkräftig (auch finanziell) das Konzert, das er in seiner Begrüßungsrede dann auch als ein „außergewöhnliches Signal an Berlin und Brüssel“ würdigte, „das auf erfolgreiche Integration und nicht auf Grenzzäune orientiert.“

Da dies in kürzester Zeit „durchgezogen“ werden musste, gab es organisatorische Querstände: das Syrian Expat Philharmonic Orchestra und sein Gründer stiegen formell aus. „Die Musiker sind da,“ konstatierte Salemkour nüchtern, „aber der Name des Orchesters ist weg.“ Er hat in Windeseile ein Orchester zusammentelefoniert, ein „Expat Philharmonic Orchestra“ mit Auswanderern aus 13 Nationen, vorwiegend aus dem arabischen Raum, davon mehrheitlich Auswanderer aus Syrien, darunter auch aktuelle Flüchtlinge wie der Kontrabassist Ayman Hajmian, der im Syrian National Symphony Orchestra musizierte, vor sechs Monaten seine Heimat verlassen musste und über die Türkei, Griechenland und Italien nach Holland geflüchtet ist. Aufgestockt durch einige Musiker der Norddeutschen Philharmonie Rostock, in der Mitwirkung von Opernchor und Singakademie Rostock, mit den Gesangssolisten Barbara Krieger (Sopran) und Tobias Schabel (Bass), mit Luisa Islam-Ali-Zade (Alt) mit iranischem Hintergrund und dem jungen Armenier Karo Khachatryan (Tenor) von der Rostocker Musikhochschule entstand ein wahrhaft multikulturelles Ensemble.

Der Deutsch-Algerier Salemkour führte diesen Klangkörper, nach nur dreitägiger Probenarbeit, zu einer beeindruckend geschlossenen und inspirierten Leistung. Es war ein Glücksmoment dieser Aufführung, dass sich in ihr die musikalische Interpretation mit den kulturellen Intentionen deckte. Mit straffem Tempo und Klang, mit einer fesselnden Dramaturgie löste Salemkour die „Neunte“ aus der unverbindlichen Weihe eines entleerten Rituals, an dessen Ideal wir meist nur für die Dauer ihrer Verkündigung glauben können, und ließ sie in diesen Zusammenhängen als Möglichkeit und Notwendigkeit von Lebenspraxis aufscheinen.

So konnten die 800 Zuhörer, unter ihnen fast 300 ehrenamtliche Helfer der Flüchtlingshilfe, denen die Stadt so ihren Dank abstattete, eine hinreißende und bewegende „Neunte“ erleben, Denn Beethovens große Sinfonie, so meint Salemkour, „bringt auf den Punkt, wie eine gesellschaftliche Ordnung funktionieren kann“: „Alle Menschen werden Brüder / Seid umschlungen Millionen“, deren moderner Name „Solidarität“ ist und die den ideellen Horizont bilden für Merkels „Wir schaffen das!“

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