„Durch die Vermehrung der Reproduktionsmöglichkeiten mit Hilfe der neuen technischen Mittel erleben wir eine ‚Musik-Inflation‘, die alle Dämme der traditionellen Musik-Währung in Konzert und Oper einzureißen droht. […] Noch ist aber die eigene Physiognomie der technischen Musik nicht gefunden.“
Alte, gewachsene Strukturen, die durch den technischen Fortschritt in Frage gestellt werden – eine neue, durch eben diesen Fortschritt ermöglichte Musikkultur, die an ihren Konturen noch einige Unschärfen aufweist: Ersetzt man das Adjektiv „technisch“ durch „digital“, so bekommt Leo Kestenbergs Antwort auf eine Umfrage vom Mai 1929 eine ziemlich aktuelle Konnotation. „Wie werden Tonfilm und Funk die Musik umgestalten?“, hatte die Berliner Montagspost damals gefragt, und so wie Kestenberg, der sich auf seinen Lehrer Ferruccio Busoni berufend eine „musikalische Originalform“ mit „eigenen ästhetischen Gesetzen“ entstehen sah, so äußerten sich auch andere Prominente des Musiklebens, darunter Otto Klemperer, durchaus offen für die neuen Möglichkeiten.
Was die Digitalisierung betrifft, ist heute die Zeit abwartender Skepsis längst vorbei. Das Tempo ihrer beinahe täglich neuen Entwicklungen zwingt auch die Akteure der musikalischen Bildung zu unmittelbar praktischer Reaktion und vorausschauender Reflexion. Beides wollte der Verband deutscher Musikschulen (VdM) mit seinem Kongress in Stuttgart abbilden und hatte dafür das Motto „Mensch. Netz. Musik – Musikschule mittendrin!“ ausgerufen. Den praktisch zupackenden Teil, gleichsam das aufmunternde Ausrufezeichen im Motto, deckten dabei Workshops zum Umgang mit diversen digitalen Medien und für Unterrichtszwecke nutzbaren Smartphone- oder Tabletapplikationen ab. Die Herausforderung für die Dozentinnen und Dozenten bestand dabei vor allem darin, den unterschiedlichen Vorerfahrungen der Teilnehmer Rechnung zu tragen.
Zur Reflexion trug unter anderem eine Podiumsrunde bei, in der der Appmusik-Experte Matthias Krebs die Fragen aufwarf, die sich aus den beiden Grundprinzipien der digitalen Revolution für den Bereich der Musikschulen ergeben: „1. Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. 2. Was nicht digitalisiert, aber digital ersetzt werden kann, wird digital ersetzt.“ Seiner Auffassung nach wird Instrumental- und Vokalunterricht nur dann durch digitale Angebote überflüssig gemacht werden, „wenn Unterricht nicht als Bildungsangebot, sondern als Qualifizierungsmaßnahme konzipiert ist“. Womit die allgemeinere Bedeutung des Kongressmottos ins Spiel kommt. Denn natürlich ging es in Stuttgart nicht nur ums digitale Netz, sondern auch darum, in welchem Kontext, in welchem gesellschaftlichen Netzwerk städtische und kommunale Musikschulen heute ihre Bildungsaufgabe zu erfüllen haben. Da ging es um die Arbeit mit Geflüchteten und andere Aspekte der Migrationsgesellschaft, um Wege hin zu inklusiven Musikschulen und um Kooperationen. So wurde etwa das Orchesterpatenschaftsprojekt „tutti pro“ nicht nur bei einem eigenen Symposium thematisiert, sondern auch in einem hochkarätigen Konzert der Stuttgarter Philharmoniker mit dem Orchester der Stuttgarter Musikschule zum Erklingen gebracht.
All diesen auf technische und gesellschaftliche Veränderungen reagierenden oder diese mitgestaltenden Arbeitsfeldern ist eines gemeinsam: Für sie muss immer wieder neu definiert werden, um welche musikalische Bildung es dabei im Kern eigentlich geht. Umso mehr, wenn dabei Akteure zusammenarbeiten (müssen), die bis vor gar nicht so langer Zeit vor allem auf ihrer Eigenständigkeit beharrten – Musikschule und Schulmusik zum Beispiel. Da war es ein ermutigendes Zeichen, dass sich anlässlich des Musikschulkongresses die seit ihrer Gründung vor 16 Jahren eher im Hintergrund agierende „Föderation musikpädagogischer Verbände“ zu einer Sitzung zusammenfand, die den Startschuss für die Erarbeitung eines „Gesamtkonzepts musikalischer Bildung“ geben sollte, ein Vorhaben, das zuvor in einer öffentlichen Diskussion vorgestellt wurde. Dabei sehen sich der Bundesverband Musikunterricht (BMU) und der VdM – allein sie waren bei der Runde vertreten – durch ihren öffentlichen Auftrag in der Verantwortung, die ersten Schritte zu gehen.
Wenn es um solcherlei ambitionierte Entwürfe geht, wird gerne Leo Kestenberg herangezogen, dessen Denkschrift „Musikerziehung und Musikpflege“ von 1921 auch knapp 100 Jahre nach seinem Erscheinen kaum etwas von seiner beeindruckenden, alle Bereiche des Musiklebens in den Blick nehmenden Weitsicht verloren hat. So bezog sich der BMU-Vorsitzende Ortwin Nimczik denn auch auf Kestenberg und machte deutlich, dass sein großer, horizontal konzipierter Wurf im Gegensatz zur später entstandenen Aufteilung in zwei Säulen der musikalischen Bildung – schulisch und außerschulisch – im Grunde aktueller ist denn je. In seinem Fazit, das Hans Bäßler, Präsident der Föderation musikpädagogischer Verbände, nach der internen Sitzung gegenüber der nmz zog, klingt genau dieser Gedanke an: „In jedem Fall aber wird von allen in der Föderation zusammengefassten Verbänden die Notwendigkeit gesehen, die Statik eines vertikal strukturierten Bildungsangebotes Musik (also als ein Nebeneinander – klientenbezogen) zukünftig horizontal (bezogen auf die Lebensabschnittsphasen) zu denken.“
Inwieweit der digitalen Revolution mit solchen Denkmodellen beizukommen sein wird, dürfte maßgeblich davon abhängen, welche Haltung die beteiligten Fachverbände bei ihrer Konzeption gegenüber dem wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruch einnehmen, der damit einhergeht. Nachdenklich sollte ein Blick auf Leo Kestenbergs Aufsatz „Wandlungen der Musikpädagogik“ von 1929 stimmen: „Aber da Musik, vielleicht vor allen anderen Formen, den für sie empfänglichen Menschen prägt, in ihm ein Hochgefühl der Menschlichkeit schlechthin schafft, so ist Musik gerade für unsere Zeit Notwendigkeit.“