Das Publikum steht auf und applaudiert kräftig und sehr herzlich, noch bevor überhaupt der erste Ton erklungen ist. Denn Hans Werner Henze, zu Gast beim Henze Festival in Münster, betritt das Kleine Haus der Städtischen Bühnen, um seine Kinderoper „Pollicino“ zu sehen.
Er geht sehr langsam, gestützt auf einen Gehstock und den Arm seines Assistenten Michael Kerstan. Das Publikum in Münster feiert den großen Komponisten, der wenige Tage zuvor seinen 85. Geburtstag beging, schon mit dieser lebhaften Begrüßung und Henze genießt sichtlich den Applaus. Die Premiere des „Pollicino“, einer Art Hänsel und Gretel mit politischem Hintersinn, das immer noch direkt unter die Haut des Zuschauers geht, verläuft triumphal.
Das junge Instrumentalensemble mit den vielen präzisen Blockflöten, dem brillanten Schlagwerk, der Harmoniegruppe und den beiden tiefen Streichern unter Peter Meiser, gekrönt von hervorragenden, sehr jungen Sängern, zeigt sich im mit etwas Plastikfolie und rot lackierten Ölfässern knallhart in die Slums verlegten Elternhaus als überzeugende Truppe. Henze hatte dieses bezwingende Werk für die Kinder des Bergdorfes Montepulciano komponiert und die Stimmen so angelegt, dass auch junge Künstler oder pfiffige Amateure sie spielen können.
Vom 26. Juni bis zum 10. Juli reihten sich die Veranstaltungen des Henze Festivals in Münster Tag für Tag aneinander. Möglich gemacht hat es die sichtlich effektive Zusammenarbeit der Städtischen Bühnen, des Sinfonieorchesters, der Gesellschaft für Neue Musik (GNM), der Westfälischen Schule für Musik, der Musikhochschule und der Universität.
Das Sinfoniekonzert mit Henzes vertrackt schwieriger achter Sinfonie und Felix Mendelssohn Bartholdys Musik zum „Sommernachtstraum“ geriet zu einem weiteren Höhepunkt in dieser Reihung von ganz besonderen Konzerten. Beide Werke beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Art mit Shakespeares Werk – die Kombination in einem Konzert erwies sich als schlüssig. Das Orchester unter Fabrizio Ventura glänzte mit herausragenden Soli (Oboe!) und herrlichem Gesamtklang.
Henze selbst meinte dazu schmunzelnd: „Das war ein bisschen ein Schockerlebnis. Ich habe die Sinfonie selten so gut gespielt gehört wie heute Abend. Sehr viele Nebenstimmen waren hörbar.“ Im Pressegespräch in Münsters Rathaus äußerte er sich zu dieser Sinfonie, dem Festival insgesamt und seinem neuen Werk, dass zur Zeit in Arbeit ist: „Eine Art Oratorium“ nennt Henze das Chorwerk um die Erlebnisse der Apostel, die sich nach Jesu Tod in Damaskus treffen. Uraufgeführt wird es im kommenden Jahr vom Thomanerchor Leipzig.
Warum Henze so gern für Kinder oder junge Musiker komponiert? „Die Musik ist eine Seelenkunst. Kinder in diese Zauberwelt hineinblicken zu lassen, sie zu inspirieren, selbst Musik zu machen, ist mir wichtig.“ Und dass es auch im reiferen Alter immer noch spannend sei, ein neues Werk zu komponieren: „Es kommt darauf an, sich in seiner Arbeit so wenig als möglich zu wiederholen. Mit jeder Arbeit befreit man sich von einer Denklast.“
Einen weiteren Höhepunkt des Festivals bildete die Oper „Die Englische Katze“. Mit Witz und Ironie hält Henze hier mit dem altbewährten Stilmittel der Fabel den Menschen einen blitzenden Eulenspiegel vor und lässt kultivierte Katzen (in wundervolle Kostüme und überdimensionierte Kulissen gesteckt) singen. Das bestens aufgelegte Orchester und die sehr gut ausgewählten Solisten (darunter Andrea Shin und Henrike Jacob) gestalteten unter der Leitung von Fabrizio Ventura einen beeindruckenden Abend, einen glanzvollen Start des Festivals.
Kammermusikkonzerte, Vorträge und Filme mit der Musik Henzes vervollständigten das sehr umfassend angelegte Festival, das der Komponist selbst an mehreren Abenden sichtlich genoss. Noch vor seinem Eintreffen stand Henzes, „The Royal Winter Music“ für Rezitator und Gitarre auf dem Programm. Reinbert Evers, der die zweite dieser Sonaten uraufgeführt hatte, konnte aufgrund einer Verletzung nicht in die Saiten greifen, Maximilian Mangold übernahm den Part. Mangold legte die Musik, ganz im Sinne Henzes, technisch perfekt, filigran bis frech an. Rezitator Benjamin Krahdolfer Roth stellte die Shakespearsche Personenschar bunt und illuster manchmal gar ein bisschen zu imposant dar.