Mit der aktuellen Situation der Neuen Musik in Deutschland beschäftigen sich mehrere Artikel in dieser Ausgabe der nmz. Albrecht Dümling macht sich unter dem Titel „Ernste Musik in der Spaßgesellschaft“ Gedanken über das Europäische Komponistengespräch 2003 in Berlin (Seite 3), von Udo Zimmermann kann man in Auszügen das Statement nachlesen, das er als Direktor der Abteilung Musik der Akademie der Künste in Berlin soeben der Öffentlichkeit zuleitete („E und U im Streit“, Seite 8
Auf derselben Seite unternimmt Christian Wilckens, Vorstandsmitglied des Composers Club (CC), den Versuch, das Verhältnis zwischen E-Komponisten und den CC-Komponisten sachlich darzustellen, nachdem es nach der letzten GEMA-Aufsichtsratswahl, wo nur noch ein E-Komponist ins Gremium gewählt wurde, zu zum Teil scharfen kritischen Auseinandersetzungen zwischen den komponierenden Parteien und in der Öffentlichkeit kam („Böse Composer, gute Komponisten?“). Auch in anderen Publikationen beschäftigt man sich mit dem Thema, so der Präsident des Deutschen Musikrates, Martin Maria Krüger, im GEMA-Pressespiegel, wo er die veränderten Bedingungen für die Neue Musik in der Musikratsarbeit schildert, und in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Musik & Ästhetik“ beschäftigt sich gleich ein Dutzend prominenter Autoren, Musiker, Dirigenten, Intendanten, Komponisten mit der „Gegenwärtigen Lage von Kunst und Kultur“.
Wer alle diese Aufsätze und Kommentare gelesen hat, verspürt das dringende Bedürfnis, in einen guten Weinkeller zum Verkosten hinabzusteigen oder mit einem Pflanzenbestimmungsbuch in die Natur auszuschwärmen.
Das wäre höchstwahrscheinlich und letztendlich produktiver und pfleglicher für den individuellen seelischen Haushalt. Aber es geht andererseits doch um die Musik, damit auch ums „Seelische“, und so mischt man wieder mit und sich ein in die Endlos-Debatte über Kunst, Kultur, Musik und überhaupt. Und zum xten Mal wettert man mit dem Dirigenten Hans Zender wieder wider den flachköpfigen Zeitgeist, sorgt sich um die Zukunft der Neuen Musik, deren schwindende Akzeptanz beim Publikum und bedrohliche finanzielle Situation, und ärgert sich zuletzt noch über manche Festivals der Neuen Musik, wenn sogar diese sich besagtem Zeitgeist „crossovermäßig“ anbiedern.
Dabei hat der große Luigi Nono schon vor zwei Jahrzehnten die kommenden Entwicklungen präzis beschrieben, die wachsende „Ökonomisierung der Kultur” und die damit verbundene „Versimpelung des Denkens“. Max Nyffeler zitiert in seinem beckmesser-glossarium (auf Seite 8) dazu Nonos kritische Gedanken: dass der Markt mit seinen Forderungen nach schnellen Lösungen keine offenen Fragen mehr zulasse. Es gäbe aber Fragen, die hätten keine Antworten. Die Manie, alles zu erklären, alles zu beweisen, alles zu organisieren, alles zu systematisieren, führe zum Tod der Kultur – Luigi Nonos Warnungen, sie werden heutzutage in einer Art Umkehrverfahren als verbindliche gesellschaftliche und politische Spielregeln in der öffentlichen Kulturdebatte fröhlich und hemmungslos als neue Realität ausgegeben. Man kann das endlose, von Ahnungslosigkeit und Nichtwissen durch-zogene Gequatsche schon lange nicht mehr hören, und muss sich doch immer wieder gegen den galoppierenden, immer mächtiger sich aufplusternden Unverstand zur Wehr setzen. Diesen Anspruch stellt die Kunst in ihren weit verzweigten Ausdrucksformen unablässig an ihre Verteidiger. Eigentlich bräuchte sich die Kunst nicht zu verteidigen, so wie niemand auf den Gedanken käme, von Physik oder Chemie große Publikumsresonanz oder hohe Einschaltquoten wie im Fernsehen zu verlangen. Weil das aber nur schwer in die Köpfe hineinzubringen ist, müssen immer wieder diese erschöpfenden Diskurse geführt werden – manchmal fühlt man sich schon wie der Hauptmann in Büchners „Woyzeck“.
Um sich auf die Musik zu konzentrieren: die Neue Musik – wir wollen das „Neue“ groß schreiben, weil beide Worte zusammen als Begriff verstanden werden – ist auch und vor allem in ihrer Komplexität ein Forschungsgegenstand. Das beweist allein schon die Existenz ihrer Forschungsinstitute, beispielsweise das IRCAM in Paris, das Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR, aber auch die avancierten Festivals der Neuen Musik wie Donaueschingen oder Witten dürfen, trotz des riesig gewachsenen Publikumszuspruchs, den Forschungscharakter für sich reklamieren – die häufigen Klagen über schwache Jahrgänge, wie beim Wein, oder angebliche Alterungserscheinungen übersehen besserwisserisch diesen Forschungsaspekt. Auch in einem naturwissenschaftlichen Laboratorium misslingen reihenweise angesetzte Experimente. Niemand wird deshalb verlangen, das Labor zu schließen.
Der primär experimentelle Charakter Neuer Musik verweist Fragen nach der Akzeptanz beim Publikum in die zweite Reihe, wenn man sie denn überhaupt einordnen will. Die Stringenz, die dieser Experimentier-Charakter entwickelt, unterscheidet die avancierten Komponisten der Neuen Musik – die wichtigsten Namen dürfen als bekannt vorausgesetzt werden – von Crossover-Spezialisten, „Composern“ oder Popartisten. Man will und sollte auch nicht deren Arbeit als zweitklassig oder gar überflüssig berümpfen, wie es manche strenge E-Komponisten gern praktizieren.
Das Bestreben, „Neues“ und „Anderes“ an ein größeres Publikum zu bringen, ist legitim, auch die finanzielle Förderung kann von Fall zu Fall akzeptiert werden. Was jetzt jedoch im Deutschen Musikrat geschieht, die zur Verfügung stehenden Mittel anders zu verteilen, den Pop-Bereich kräftiger zu fördern, hinter dem naturgemäß die stärkeren Publikumsbataillone stehen, und bei der Neuen Musik die Förderung entsprechend zurückzufahren, kann so nicht hingenommen werden. Die Neue Musik ist keine Musikrichtung wie andere, sondern ein, wie oben ausgeführt, eigenständiger “Gegenstand”, der nicht mit den üblichen Bewertungen eingeordnet werden darf. Die veränderte Behandlung der Neuen Musik im Deutschen Musikrat könnte man vielleicht achselzuckend noch übersehen, wäre sie nicht ein negativ besetztes Signal, das andere zur Nachahmung anreizt. Es gibt schon genügend Beispiele. Ein besonders bedenklich stimmendes ist die Präsenz der Neuen Musik im Rundfunk: Weniger immer später. Das Populäre ist auch hier im Vormarsch. Löbliche Ausnahmen unterstreichen nur die missliche Regel. Dabei hat der Schweizer Kulturkritiker Urs Frauchiger unverändert recht, wenn er schon vor zwei Jahrzehnten Tendenzen kritisierte, die sich im Radio seines Heimatlandes ausbreiteten: Wenn hunderttausend Rundfunkteilnehmer James Last hören möchten und einer Schönberg, so heißt die Lösung für das Sendeprogramm nicht hunderttausend Stunden James Last und eine Stunde Schönberg, sondern eine Stunde James Last und eine Stunde Schönberg. Das sei, so Frauchiger, wahrhafte Demokratie, die auch den einzelnen zu gleichem Recht verhilft. Von solcher Demokratie sind wir heute weit entfernt.
Mit großem Ernst und Solidarität
Zum Leitartikel „Die Neue Musik…“ von Gerhard Rohde, nmz 2/04, Seite 1