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Die Baltic Youth Philharmonic auf Usedom. Foto: Monika Lawrenz
Die Baltic Youth Philharmonic auf Usedom. Foto: Monika Lawrenz
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Die Ostseeregion - Musik für das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit

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Der Radius um einen Standort weist auf geographische Sphären, wohin oder woher kulturelle Ausstrahlung mit identitätsstiftender Wirkung möglich ist. Attraktiv für solche Konstellationen ist die Ostseeregion geworden, seit sie nicht mehr von der Systemgrenze politischer Blöcke geteilt und dadurch wieder ein Gebiet ungehinderter Kommunikation ist. Nach dieser historischen Zäsur sind nun in der Metropole Stockholm, auf der Insel Usedom und in der Hansestadt Lübeck je exemplarische Perspektiven entstanden, wie das kollektive Bewusstsein über die Zusammengehörigkeit der Ostseeregion mobilisiert werden kann.

Das Baltic Sea Festival

„Vielleicht ist es einfacher, die Kommunikation über die Musik zu organisieren“, dachte Esa-Pekka Salonen. Als kosmopolitischer Komponist und Dirigent, der 1958 in Helsinki geboren wurde, hat er die Szene in Skandinavien beobachtet und mit seinem Kollegen Valery Gergiev aus St.Petersburg sowie Michael Tydén, Konzerthaus-Chef der Berwaldhallen Stockholm und Festival Manager, im Jahr 2003 das Baltic Sea Festival gestartet.

Das besondere Merkmal beim Baltic Sea Festival ist die Integration von kulturellem Netzwerk und Naturschutz. „Weil ich an der Ostsee aufgewachsen bin und dort auch jeden Sommer verbringe, möchte ich mich für die Umwelt in dieser Region engagieren. Der ökologische Zustand der Ostsee ist, wie wir wissen, katastrophal. Zudem ist die politische Struktur um die Ostsee herum so komplex, dass es bisher keine effektive Verständigung zwischen den Ländern über dieser Situation gab. – Musik ist an sich neutral. Sie funktioniert nicht wie Texte oder Images, aber natürlich kann Musik für politische Zwecke verwendet werden. Sie sollte die gleiche Kraft in nationalen und internationalen Diskursen erlangen wie beim Risorgimento in Italien, das von Giuseppe Verdi durch seine Musik kommentiert worden war“, begründet Esa-Pekka Salonen die Festivalidee. Für diese Initiative wurde er im Jahr 2005 doppelt ausgezeichnet: nämlich mit dem Kulturpreis der Schwedisch-Finnischen Kulturstiftung und mit dem Umweltpreis des WWF (World Wide Fund For Nature), Festival-Partner im Baltic Sea Projekt. „Esa-Pekka Salonen hat seine Seele und seinen künstlerischen Einfluss zum Erhalt einer intakten Ostsee eingesetzt“, war in der Laudatio zu lesen.

Beide Aspekte – ein nordeuropäisch profiliertes Klassikprogramm und das Bewusstsein über das Ökosystem Ostsee zu fördern – sind der Motor, um durch das Baltic Sea Festival eine Führungsposition bei der Gestaltung von „Brücken zur Kommunikation“ zu erlangen, davon ist Michael Tydén überzeugt. „Die Beteiligung vom WWF war bisher sehr erfolgreich, indem diese Organisation die Festivalbotschaft nachhaltig verbreitet hat, und auch einige Regierungen unterstützen das Festival finanziell." Wobei die Kooperation mit Polen, namentlich dem Polnischen Institut in Stockholm und dem Adam Mickiewicz Institut Warschau, das beim Baltic Sea Festival 2011 das international besetzte I, Culture Orchestra protegiert, offenbar besonderen Stellenwert hat.

Die aufgeführten Werke sollen die beteiligten Nationen repräsentieren. „Keine einfache Aufgabe, denn der Wunschkatalog aus je länderspezifischem Kernrepertoire muss die verschiedenen Interessen balancieren“, das ist Michael Tydén aus langen Diskussionen bekannt. Darüber hinaus gibt das Baltic Sea Festival zeitgenössischen Trends mit Auftragskompositionen u.a. für Jan Sandström in den Berwaldhallen Stockholm ein Forum. Hervorragende Ensembles und prominente Dirigenten wie Riccardo Muti und Solisten wie Thomas Quasthoff garantieren die Attraktivität des Baltic Sea Festivals, sodass es sich als nordeuropäische kultur-ökologische Institution über den Standort Stockholm hinaus etablieren konnte. Damit Situationen zur Begegnung der Kulturen und internationale Kontakte (außer bei Konzerten) entstehen, wurde zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit von politischer Block-Hegemonie eine "Chain Of Freedom" (Kette der Freiheit) in Stockholm und den Baltischen Staaten organisiert, eine symbolische Aktion, bei der sich über zwei Millionen Menschen an den Händen fassten.

Das Usedomer Musikfestival

Gegenüber von Schweden, an der südlichen Ostseeküste liegt Usedom, wo sich Status und Reputation des Usedomer Musikfestivals seit 1994 kontinuierlich weit über die zweitgrößte Insel Deutschlands hinaus entwickelt. Auch dort hat man sich das Konzept transnationaler Begegnung zu eigen gemacht. Wie, davon erzählt Intendant Thomas Hummel: "Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mussten wir zunächst unsere Identität genauer bestimmen, denn Usedom ist ja geteilt und hat eine direkte Grenze zu Polen. Sprachbarrieren und alte Ressentiments mussten überwunden werden, um Kontakte und Vertrauen in gemeinsame Projekte aufzubauen. Jetzt haben wir die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit als Sponsor und eine gut funktionierende Organisation im Nachbarort Świnoujście / Swinemünde. Die politischen Instanzen in Polen haben sehr schnell gemerkt, welche positiven Effekte die Begegnungen von Menschen etwa in Workshops an der Musikschule dort haben. Für unsere Bemühungen um Völkerverständigung haben wir deshalb 2007 den Tryton-Preis der Stadt Świnoujście / Swinemünde bekommen. So haben wir uns Jahr für Jahr vorgetastet und mit Kulturtraditionen auseinandergesetzt, die so lange unterdrückt waren. Indem wir die Musikinstitutionen der baltischen Staaten und Russlands kennengelernt hatten, konnten wir sukzessive Zusammenhänge entdecken und sie beim Usedomer Musikfestivals zeigen. Diesen Lernprozess haben wir allmählich auch auf die Bereiche Ballett, Jazz und Weltmusik erweitert." Nun gibt es ein weit verzweigtes Netzwerk der Kooperationen u.a. mit dem Schleswig-Holstein Musikfestival, den Festspielen zu Bergen (Norwegen), dem Warschauer Herbst (Polen), dem Glasperlenspiel Festival Tartu (Estland), dem St. Christopher Summer Music Festival Vilnius (Litauen), den Weißen Nächten St. Petersburg (Russland) und insbesondere mit dem Baltic Sea Festival.

In diesem Kontext hat die in der Saison 2008 von Thomas Hummel, der Nord Stream AG und dem Dirigenten Kristjan Järvi gegründete Baltic Youth Philharmonic eine wegweisende Funktion, gerade dadurch, dass Esa-Pekka Salonen und Valerie Gergiev als künstlerische Berater hinzu gekommen sind: Mehr als 70 junge Musikerinnen und Musiker aus den Anrainerstaaten der Ostsee, die in strengen Auditionen ausgewählt werden, haben sich seitdem zu einem "für Nordeuropa und das 21. Jahrhundert" (Kristjan Järvi) repräsentativen Orchester etabliert: "Das Konzept des Baltic-Projekts ist, die Gemeinsamkeiten zu fördern", was durch ausgedehnte Tourneen und passende "Baltic Voyage" - Programme mit historischen und zeitgenössischen Kompositionen aus allen Ostseeländern geschieht.

Analog zu den Programmen der Baltic Youth Philharmonic thematisiert das Usedomer Musikfestival jedes Jahr über drei Wochen in einem Konspekt die Musikkultur aus einem Land der Ostseeregion, im Fokus 2011 ist Litauen. Wobei zumindest ein zeitgenössisches Auftragswerk oder eine Premiere aufgeführt wird: "Für mich war das schon immer eine Selbstverständlichkeit. Welche von diesen Werken in der Zukunft noch Bestand haben werden, wissen wir heute noch nicht. Aber wenn es die Festivals nicht mehr machen würden, dann gäbe es keine Kreativität in diesem Bereich. Man müsste mehr Mut zeigen, viel mehr moderne Musik präsentieren, denn bei gewissen Festival- oder Konzertreihen wird die Moderne vernachlässigt und deshalb ist das Publikum schockiert. Wir hatten schon mehrmals einen ganzen Abend zeitgenössische Musik, da muss man sich völlig öffnen zu ganz verrückten, avantgardistischen Klängen, die sind aber unvergesslich, für mich zumindest. Das muss gefördert werden, insbesondere vom Staat, denn das ist eine große Aufgabe", meint Thomas Hummel. Komponisten in Residenz wie Bent Sørensen (Dänemark), Anatolijus Šenderovas (Litauen) und Pēteris Vasks (Lettland) sowie David Geringas (Cello, Litauen), Albrecht Mayer (Oboe, Deutschland) und Olli Mustonen (Klavier, Finnland) als Solisten und die Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch (Russland), Thomas Dausgaard (Dänemark) und Christoph Eschenbach bestätigen das exzeptionelle musikalische Niveau beim Usedomer Musikfestival.

Neue Musik im Ostseeraum e. V.

Lübeck Wie fast überall, ist auch in der Hansestadt Lübeck die Musikrezeption von konservativen Hörgewohnheiten dominiert, denn "dem Publikum erscheint bei zeitgenössischem Repertoire die Anstrengung höher als der Genuss." Mit dieser Diagnose unzufrieden und weil "sich um dieses Meer kulturell eine enorme Vielfalt bietet", widmet sich seit 2007 eine gemeinnützige Initiative der Aufgabe, "Neue Musik im Ostseeraum" in ambitionierten Veranstaltungen vorzustellen. "Hierbei versuchen wir, musikalische Phänomene der Neuen Musik schrittweise in engem Austausch mit Komponisten, Interpreten und Publikum erfahrbar und zugänglich zu machen. Die Freude, Neues zu verstehen, bisher unbekannte Sphären zu betreten und sich darin orientieren zu lernen, bereichert das Leben", argumentieren die Vorsitzenden des Vereins, Anne Kohfeldt und Mattias Lassen, im Programmheft zum Gedenk-Konzert "20 Jahre Deutsche Einheit" am 3. Oktober 2010 im Kolosseum / Lübeck.

Am besten geeignet zur Verbreitung dieser Idee ist offenbar die Kammermusik. Denn einerseits wirken ungewohnte Klangstrukturen in Duo- / Trio- oder Quartett-Formationen transparenter, sodass man sie genauer hören kann, andererseits sind in kleinen Auditorien direkte Begegnungen mit Interpreten möglich. Außerdem geben Seminare und Sonderveranstaltungen in Lübeck und Umgebung Gelegenheit, das Œuvre prominenter Persönlichkeiten wie Per Nørgård (Dänemark) oder Kaaja Saariaho (Finnland) en detail kennen zu lernen oder sich intensiver mit Themen wie "Thomas Mann und Litauen - Eine musikalisch / literarische Reise" zu beschäftigen. Bei den stets moderierten Konzerten sind auch oft junge Komponisten wie Tomi Räisänen (Finnland), Magdalena Buchwald (Polen) und Robert Krampe (Deutschland) anwesend, insbesondere wenn Premieren ihrer Werke (so zum o.g. Jahrestag der Deutschen Einheit) stattfinden. Marco Blaauw (Trompete, Niederlande) oder David Stromberg (Cello, Deutschland) als versierte Solisten und pars pro toto das Ensemble Reflexion X (Eckernförde, Deutschland) garantierten bisher musikalische Qualität auf Expertenniveau. Aus westlicher Perspektive ergänzt der Verein "Neue Musik im Ostseeraum" mit diesen Aktivitäten die Aufwertung kultureller Ressourcen eines für Europa einst und jetzt wieder bedeutenden Gebiets, dessen Menschen über nationale Grenzen hinweg Interesse am Gefühl der Zusammengehörigkeit haben. 

Das Usedomer Musikfestival beginnt am 24. September

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