Das „Lucerne Festival“ widmete sich dieses Jahr – zumindest programmatisch – dem Thema „Macht“. Nun sind es beileibe nicht die jüngst kolportierten „nächtlichen Telefonanrufe“ eines zenitfernen Opernsängers, welche mit diesem Begriff zugleich jenen des Missbrauchs hören lassen. Letzterer gebärdet sich in der Musikwelt denn auch mehrtönig:
Löste Mariss Jansons’ Äußerung, „women on the podium are not my cup of tea“ vor zwei Jahren heftige Gegenreaktionen in der klassischen Musikwelt aus, hätte – ein ähnlicher Maßstab angesetzt – über ein 2012 geführtes Interview mit Yuri Temirkanov ein regelrechter Shitstorm hereinbrechen müssen, dem der Dirigent – auch fünf Jahre vor MeToo – wohl nur entkam, weil es nicht in einer westlichen, sondern in der Moskauer „Nezavisimaya Gazeta“ erschienen war (der New Yorker Musikjournalist Alex Ross machte darauf aufmerksam). Darin äußerte sich diese wortwörtliche Ikone des russischen Musiklebens unter anderem folgendermaßen: „Ich weiß nicht, ob es der Wille Gottes oder der Natur ist, dass Frauen gebären und Männer nicht. Daran stört sich niemand. Doch wenn einer sagt, Frauen könnten nicht dirigieren, dann empören sich alle. Marx antwortete auf die Frage ‚Was ist für Sie der größte Vorzug der Frau?‘ – ‚Schwäche.‘ Und das ist richtig. Entscheidend ist, dass eine Frau schön, liebenswürdig und attraktiv sein sollte, und dann schauen die Musiker nach ihr und werden von der Musik abgelenkt.“ Und auf die Frage, was im Beruf des Dirigenten gegen die Natur der Frau gehe, antwortete er: „Die Essenz des Dirigentenberufes ist Stärke. Die Essenz einer Frau ist Schwäche.“
Temirkanovs vulgär-aristotelisch anmutenden Argumente sind nicht nur „politisch“ unkorrekt; sie sind schlechterdings schwach: Wenn Orchestermusiker von attraktiven Dirigentinnen in Tailleurs abgelenkt werden sollten, warum dann nicht auch von ebensolchen Solistinnen in very high heels und very short skirts?
Gott oder Apollo zum Dank sind nicht alle „maestri“ reaktionäre ex-sowjetische Dirigenten. Doch die Zahlen sprechen für sich: Gemäß einer Studie des Deutschen Kulturrats von 2016 gibt es im Kulturbereich eine ausgeprägte Geschlechterkluft – und in der klassischen Musik ist sie besonders tief. Neben den heute breiter etablierten Orchestermusikerinnen (bei den „Wienern“ freilich erst seit 1997) werden insbesondere junge Solistinnen noch immer auch nach ihrer Attraktivität selektioniert und engagiert, und Dirigentinnen und Komponistinnen bleiben – obwohl mittlerweile die Mehrheit, in jenen Fächern über ein Drittel der an Musikhochschulen Ausgebildeten Frauen sind – nach wie vor die große Ausnahme. Und beim „Lucerne Festival“, das 2016 unter dem Motto „Primadonna“ noch elf Dirigentinnen hatte auftreten lassen, waren es schon ein Jahr danach nur noch deren zwei; dieses Jahr – unter dem Motto „Macht“ mag es Züge des Zynischen tragen – dirigierte noch eine einzige. Musik aus weiblichen Federn erklang im Luzerner Festivalsommer bei über 100 Veranstaltungen drei Mal.
Solch asymmetrische Geschlechterverteilung drängt – wie Lohnungleichheiten und männlich dominierte Führungspositionen trotz einer sonst zunehmenden Geschlechtsneutralität und des Verschwindens traditioneller Männerberufe in der allgemeinen Arbeitswelt – zum Versuch, nach Gründen auszuschauen.
Tanz und Musik gelten – nicht erst seit Nietzsche – als die dionysischsten aller Künste. Der Tanz war und ist immer auch geprägt vom körperlichen Spannungsverhältnis zwischen den Geschlechtern, was von vornherein eine gewisse Gleichverteilung der Positionen bedingt und garantiert. In der Musik dagegen erscheint nicht die Körperlichkeit an sich als künstlerischer Ausdruck, sondern der menschliche Körper ist eher das nötige „Instrument“ zu ihrer Ausführung. Ihr dionysischer Charakter ist dabei aber nicht geringer als jener des Tanzes, wirkt sie doch ohne jeden optischen Reiz durch ihre Schallwellen unmittelbar auf die Körper der Zuhörer/-innen. Wenn die sinnliche Welt der Musik eine Gegenwelt zur rationalisierten, aber auch banalen Berufswelt darstellt, hat sich hier nach dem siegreichen Feldzug der Gleichstellung im Alltag eine patriarchale Nachhut gehalten, die sowohl im militärischen als auch im künstlerischen Jargon als „Arrièregarde“ zu bezeichnen wäre? Letztere kämpft selten derart offensiv wie der eingangs zitierte Temirkanov, sondern wirkt eher in einer verleugneten, unbewussten oder unterbewussten Ablehnung der weiblichen Musikerin.
Die Täterschaft könnte somit eine vorsätzliche, fahrlässige oder gar schuldlose sein, dürfte sich hingegen – anders als die Opfer – durchaus geschlechtsneutral zusammensetzen: nicht nur aus männlichen Seilschaften in Intendanzen und Vorständen, sondern eben auch aus weiblichen Bewunderinnen oder Verehrerinnen der „maestri assoluti“, zu denen sie – vom Parkett wie von der Bühne – aufschauen. Und vielleicht fragen einige beim Anblick der zum schwarzen Frack mutierten Pfauenfedern so still wie Adolf Muschgs Mutter beim Frauenstimmrecht offen: „Müssen wir den Männern auch das noch nehmen?“
Vielleicht etwas hochstehender und tiefgründiger ließe sich fragen, ob alle Musen weiblich sind (wie die neun der antiken Mythologie) und nur Männer küssen (wie in der antiken Mythologie übrigens nicht); schließlich ob das schöpferische Wesen „genuin“ männlich ist (weil auch in der säkularen Welt immer noch das Bild des graubärtigen Schöpfergottes herumgeistert – und dieselbe säkulare Welt freilich auch ignoriert, dass Ruach, das alttestamentliche Wort für „den“ Heiligen Geist, „der“ bei der Schöpfung über den Wassern schwebte, in der hebräischen Sprache der Bibel weiblich ist).
Die Antworten auf solche Fragen mag der der Kunstmanager an Philosophen oder Schriftsteller delegieren. Das rechtsstaatliche Gleichstellungsgebot verpflichtet aber auch den praktischen Musikbetrieb, Geschlechterdiskriminierung in den eigenen Reihen auszumachen und zu bekämpfen. Bei der Besetzung von Orchesterstellen hat sich das Vorspiel hinter dem Vorhang hierbei als wirksames wie probates Mittel erwiesen. Schwieriger gestalten sich die Dinge im Fall von Solistinnen, Dirigentinnen und Komponistinnen, wo sich die Verantwortlichen den Fragen zu stellen haben, ob eine geschlechtsneutralere Verteilung dieser männlich dominierten Positionen auf die Förderung qualitativ nachstehender Quotenmusikerinnen hinausliefe oder vielmehr systematisch unterschätzten Talenten zu deren gebührendem Erfolg verhelfen würde. Je nachdem, wie sie diese Fragen zu beantworten gedenken, seien Förderer, Funktionäre und Intendanten – „-innen“ fehlt hier aus Gründen – zum Umgang mit ihrer „Macht“ an ein Wort des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Kirchschläger erinnert, wonach auch der Nichtgebrauch von Macht Machtmissbrauch sein kann.
Richtigstellung
Zum Artikel von Loris Fabrizio Mainardi, nmz 10/2019, Seite 1
Im Artikel von Loris Fabrizio Mainardi „Die patriarchale Nachhut wirkt unbewusst“ schreibt der Autor: „Musik aus weiblichen Federn erklang im Luzerner Festivalsommer bei über 100 Veranstaltungen drei Mal.“ Wie offiziell per Medienmitteilung kommuniziert wurde, gab es im Sommer-Festival 2019 insgesamt 87 Verkaufs- und Gratis-Veranstaltungen, in deren Rahmen Werke von 10 Komponistinnen aufgeführt wurden, darunter 7 Uraufführungen. Nachdem der Autor außerdem kritisierte, dass in der diesjährigen Festivalausgabe nur eine Dirigentin auftrat, möchten wir darauf hinweisen, dass die Mitwirkung von Dirigentinnen jeden Sommer variiert. Im Sommer 2020 werden es drei Dirigentinnen sein, unter anderem Mirga Gražinyté-Tyla, die als „artiste étoile“ drei Sinfoniekonzerte leiten wird. Zudem freuen wir uns auf „composer-in-residence“ Rebecca Saunders.
Nina Steinhart, Lucerne Festival