Hauptbild
Im Unterrichtsgespräch: Vladimir Suslov mit seiner 15-jährigen Schülerin Daria Korotkova. Foto: Peter Dammann
Im Unterrichtsgespräch: Vladimir Suslov mit seiner 15-jährigen Schülerin Daria Korotkova. Foto: Peter Dammann
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Die Profis, die mit den Beinen baumeln

Untertitel
Die Spezialmusikschule von St. Petersburg führt Kinder ab dem frühesten Schulalter an den Musikerberuf heran
Publikationsdatum
Body

Eine Traube von Schülern drängt sich in der blassblau gestrichenen Eingangshalle. Sie lachen und schnattern, sie tragen Jeans, Turnschuhe und Rucksäcke wie auf irgendeinem deutschen Gymnasium. Erst auf den zweiten Blick fallen die vielen Instrumentenkästen auf, die ihnen über die Schultern hängen. In der hölzernen Loge, die sie umlagern, wiegt eine Dame das silberlockige Haupt. Sie leckt einen Finger an und blättert durch ein großes Buch. Die Seiten wellen sich, so eng hat sie die Zeilen mit vielarmigen kyrillischen Buchstaben bedeckt.

Die Dame ist für die Vergabe von Überäumen in der Spezialmusikschule von St. Petersburg zuständig. Rund 400 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 18 Jahren besuchen das ehrwürdige Institut, das vor 75 Jahren gegründet wurde. Es liegt nur einen Steinwurf vom Mariinsky-Theater und dem Rimsky-Korsakow-Konservatorium entfernt in einer kleinen Seitenstraße. Weltbekannte Künstler wie der lettische Dirigent Mariss Jansons und die Bratschistin Tatjana Masurenko haben ihre Karrieren hinter der verwitterten grauen Fassade begonnen. Der Bau atmet förmlich Geschichte: Goldene Schriftzüge erinnern an berühmte Professoren, Abertausende von Füßen haben die Marmorstufen im Treppenhaus rundgetreten, und von der Anschlagtafel im Trakt der Schuldirektorin Valentina Fedosejewa grüßen in schön­ster Sowjetästhetik Schriftzüge aus braunen Schaumstoffbuchstaben.

Der breiten Öffentlichkeit ist kaum bewusst, wie viele tausend Stunden Üben in einem ausgebildeten Musiker stecken – und zwar von früher Kindheit an. In der Petersburger Spezialmusikschule werden diese Stunden greifbar. „Wer hierherkommt, der weiß, dass er eine Berufsentscheidung trifft“, sagt der Geiger Mikhail Gurewitsch, der heute in Detmold lebt. „Man ist mit fünf oder sechs schon ein kleiner Profi.“ Vorausgesetzt, man hat die Aufnahmeprüfung geschafft. Auf den Korridoren vermischen sich die Klänge, die durch die riesigen Flügeltüren dringen: Klavier und Fagott, Flöte und Bajan, eine russische Variante des Knopfakkordeons. In einem winzigen Raum, umgeben von fünf Harfen, spielen zwei Schüler ein Duo für Geige und Cello. Karina Maleeva liest mit. Immer wieder greift sie ein, erklärt, zeigt in die Noten: Maleeva, im Hauptberuf Harfenlehrerin, gibt Ensembleunterricht.

Rund 20 Stunden Musikunterricht haben die Kinder jede Woche. Ähnlich deutschen Musikgymnasien, etwa dem Musikgymnasium Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin oder dem Weimarer Schloss Belvedere, die sich als DDR-Eliteschmieden über die Wiedervereinigung gerettet haben, führt die Petersburger Spezialmusikschule eine berufsvorbereitende Ausbildung durch: Neben Instrumentalunterricht und Ensemblespiel haben die Schüler Solfège und Musikgeschichte, Tonsatz und Gehörbildung. Das alles bewältigen sie zusätzlich zu den allgemeinbildenden Schulfächern. Die werden, wegen der Raumnot, in zwei Schichten unterrichtet: Morgens sind die Kleinen dran, nach der Mittagspause die Älteren.

Um elf Uhr morgens hat Alexander schon drei Stunden Trompete geübt. Sein Zimmergenosse liegt auf dem Bett und chattet am Laptop. Die beiden teilen sich ein Vierbettzimmer. Das Mobiliar besteht aus einem schmalen, hohen Schrank, einem Tisch mit Stuhl und einem freilich recht verschrammten und verstimmten Klavier. Alexander setzt sich dran und intoniert lachend „Das Lied der Gräfin“ aus Tschaikowskys Oper „Pique Dame“.

Seit 7 Jahren ist der heute 17-Jährige im Internat der Spezialmusikschule. Seine Familie sieht er selten. „Zeit für Heimweh hatte ich nie“, sagt Alexander. „Es sind ja so viele andere Kinder da. Und wir müssen alle üben.“

Das Üben müssen sie sich allerdings manchmal regelrecht erkämpfen. Wer keinen Raum ergattert, spielt seine Tonleitern schon mal auf dem Treppenabsatz oder vor dem Eingang zum Konzertsaal. Externe üben, wenn sie können, zu Hause – und sei es im einzigen Zimmer der Familie oder nachts mit Dämpfer im Bad.

Die beengten Verhältnisse scheinen Lehrer und Schüler mit demselben Gleichmut hinzunehmen wie fehlende Notenständer, rissige Fensterrahmen oder den Mustermix der Fliesen, Tapeten und Vorhänge. Ärgerlich wird es freilich, wenn sich der Zustand der Instrumente auf die Ausbildung auswirkt. „Wenn ein Flügel keine gute Mechanik hat, beeinträchtigt das auch die klanglichen Möglichkeiten“, sagt der Klavierprofessor Alexander Sandler. „Dann verliert man im Unterricht wertvolle Zeit mit Dingen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten.“ Allerdings lassen die ersten zahnpastafrisch renovierten Trakte im Konservatorium hoffen, dass auch für die Spezialmusikschule einmal Mittel fließen werden.

Die Spezialmusikschule ist der Humus, auf dem das Musikleben Petersburgs gedeiht. 1936 als angegliedertes Institut des Konservatoriums gegründet, besteht die enge Verbindung zwischen beiden Häusern noch immer fort. Wie ernst die Ausbildung von Kindesbeinen an genommen wird, kann man daran sehen, dass viele der Professoren an beiden Häusern unterrichten, wie auch Sandler, selbst ein bedeutender Pianist. Gut zwei Drittel der Kinder kommen aus Familien, in denen schon die Eltern auf der Spezialmusikschule waren und Berufsmusiker sind. Es hat Tradition, dass die Absolventen des Konservatoriums später als Lehrer zurückkehren.

Auf den Fluren herrscht den ganzen Tag Hochbetrieb; ganze Großfamilien scheinen sich auf den Bänken zu versammeln. Eltern bringen Stunden damit zu, auf ihre Kinder zu warten; zu weit sind die Wege in St. Petersburg, als dass es sich lohnte, nach Hause zu fahren.

Das russische Herz der Spezialmusikschule sind Tanten und Großmütter – liebevoll Babuschkas genannt – die in der Schule als Garderobenfrauen arbeiten und die Überäume einteilen. „Meine Großmutter war Wachfrau im Internat“, erzählt der junge Pianist Andrej Telkov. „Sie war immer da.“ Für den Internatsschüler war sie die einzige Verbindung zu seiner Familie; Telkov kommt aus Voronez, und das liegt gut 400 Kilometer südlich von Moskau.

Vor dem Konzertsaal der Schule summt es. Schwer zu sagen, wer hier zu wem gehört: Lehrerinnen haben den Arm um ihre Schülerinnen gelegt, Mütter zupfen ihren Söhnen die Krawatte zurecht. Zweiundzwanzig Klavierschüler beteiligen sich an einem internen Vorspiel. Eingeladen hat die Gartow Stiftung aus Hamburg, die das Konservatorium und die Spezialmusikschule seit 1992 fördert. Der deutsche Generalkonsul hat Klaviernoten gestiftet, die Stiftung vergibt ein paar Geldpreise. 150 oder 250 Euro sind hochwillkommene Beträge: Der Schulbesuch ist zwar kostenlos für die Kinder, doch für Instrumente, Instandhaltung und Noten aufzukommen, überfordert manches elterliche Budget.

Die Jungen tragen Tuchhosen oder Anzug, die Mädchen Rock und Bluse. Mit ernsten Gesichtern betreten die Teilnehmer die Bühne, sie drehen sich kaum zum Publikum und den Juroren. Fast wirkt es, als spielten sie nur für sich. Um so freier wirken sie oft am Instrument: Da zeigen sie sich nicht nur technisch verblüffend souverän, sondern vor allem von einer musikalischen Reife, die von innen zu kommen scheint. Nichts wirkt aufgepfropft.

Jedes Jahr müssen die Schüler eine Prüfung im Hauptfach ablegen. Wer die große Zwischenprüfung nach dem achten Jahr besteht, hat gute Chancen, nach dem Schulabschluss auch die Aufnahmeprüfung fürs Konservatorium zu schaffen wie vier Fünftel der Schüler.

Nach dem Studium allerdings wird es eng. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber die Komponistin Elena Lisavtsova, die kürzlich ihren Abschluss am Konservatorium gemacht hat, schätzt, dass etwa zehn Prozent der Absolventen nach Westeuropa gehen. Nur eine Handvoll findet dort eine Stelle in einem Orches­ter oder an einem Opernhaus. Die anderen kommen zurecht, wenn sie genügend Flexibilität und Phantasie haben. Mikhail Gurewitsch etwa leitet das Det­molder „Dogma Chamber Orchestra“.

Von denen, die in Russland bleiben, kommen jedes Jahr einige wenige bei der Petersburger Philharmonie, beim Mariinsky-Orchester oder vergleichbaren Orchestern andernorts unter. Der große Rest unterrichtet oder muss sich mit anderen Arbeiten durchschlagen wie Kaffeehausmusik oder Notenkopieren. Die Verdienstmöglichkeiten sind mehr als schmal: Wer das Glück hat, eine Stelle bei einem etablierten Orchester zu bekommen, verdient 50- bis 60.000 Rubel im Monat. Das sind etwa 1.200 bis 1.500 Euro, fürstlich im Vergleich zu den Gehältern der Lehrer an der Spezialmusikschule. Die liegen bei weniger als 600 Euro im Monat – und das bei einem durchwegs westlichen Preisniveau. Das verleiht der Tatsache, dass viele Lehrer – wie es unter russischen Rentnern verbreitet ist – bis ins hohe Alter hinein arbeiten, einen bitteren Beigeschmack.

Von diesen Nöten lassen Ernst und Arbeitseifer in der Spezialmusikschule nichts ahnen. Mag sich draußen die große Uhr der Weltgeschichte drehen, in der Bibliothek schaut Anton Rubinstein, der Gründer des Konservatoriums, ungerührt von einer alten Fotografie an der Wand, hören die Vitrinen mit den zerlesenen Notenbänden das leise Ticken der Wanduhr. Und Generationen von Kindern wachsen in die große Musiktradition des Landes hinein. „Ich habe meine Kindheit nicht verloren, trotz des vielen Übens“, sagt Mikhail Gurewitsch. „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.“ Gurewitsch hat mit seinen Freunden Fußball gespielt und eine Rockband gegründet. „Die Harmonielehrer haben sich schon geärgert, wenn wir auf unsere E-Gitarren droschen, während sie nebenan einen Dominantseptakkord erklärten. Aber die Schule hat das mitgetragen.“

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!