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Überragende Protagonistin: Dagmar Menzel in den „Sieben Todsünden“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus
Überragende Protagonistin: Dagmar Manzel in den „Sieben Todsünden“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus
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„Die sieben Todsünden“ als Annas Schizogramm: Ovationen für Dagmar Manzels One-Woman-Show an der Komischen Oper Berlin

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Wie dressiert man an einem Opernhaus einen halben Abend zu einem vom Publikum als abendfüllend akzeptierten Programm und spart sich dabei noch sämtliche Ausstattungskosten? Man nehme Brechts und Weills letztes gemeinsames Werk, reduziere die beiden Annas des Balletts mit Gesang auf eine, verzichte optisch ebenso auf Annas Familie, wie auf sämtliche Requisiten, umrahme das Ganze mit ein paar weiteren, vom Klavier begleiteten Weill-Songs und warte – nach knapp eineinviertel Stunden – auf den Erfolg.

Dieses Rezept gelingt nur mit einer überragend spielenden, tanzenden und singenden Darstellerin, – an der Komischen Oper Berlin Dagmar Manzel.Edward James als Auftraggeber der “Sieben Todsünden“ für „Les ballets“ in Paris,  forderte im Jahre 1933 von Bert Brecht und Kurt Weill eine Rolle für seine Frau, die Tänzerin Tilly Losch. Sie kreierte dann neben Lotte Lenya die in Anna I und Anna II geteilte Partie jenes Mädchens, das sieben Jahre für ihre Familie tingeln geht, um den Anverwandten den Bau eines Einfamilienhauses zu ermöglichen. Dabei wird Anna in sieben Episoden davor gewarnt, jene Todsünden zu begehen, die Brecht in Bezug auf die Gesetze des Kapitalismus umgewandelt hat: christliche Todsünden, wie Faulheit, Stolz, Neid und Unzucht werden zu Tugenden. Die Gesellschaft erwartet von einer Tänzerin, ihren Körper nackt in den Dienst ihrer Kunden zu stellen.

Da Annas Familie in Berlin unsichtbar bleibt (Sebastian Lipp, Adam Cioffari, Manuel Günther und Tim Klaski konzertieren aus den Logen), verzichtet die Show auf den Witz, dass Weill die Rollen von Vater, Mutter und Brüdern für Männer komponiert hat. In Barrie Koskys Inszenierung ist die familiäre Moral zu allgemeinen Forderung einer kapitalistischen, männlich dominierten Gesellschaft abstrahiert.

Am Anfang schindet der Regisseur merklich Zeit, wenn der Verfolgerkegel im Schneckentempo über Kronleuchter und Wände der Komischen Oper gleitet, um schließlich die Vorhangmitte zu finden, aus der zunächst nur der Kopf der Darstellerin guckt, die den Song „Berlin im Licht“ aus dem Jahre 1928 und dann den berühmten „Surabaya Johnny“ aus „Happy End“ intoniert. Mit dem Rücken zum Publikum gestaltet die mikrofonverstärkte Dagmar Manzel nuancenreich. Den sie dezent begleitenden Pianisten Frank Schulte küsst sie zweimal lange auf die Schläfe, denn er begleitet für sie auch Lieder, wie „Yukali“ und „I am a stranger here myself“, die nicht von Brecht getextet wurden. Schließlich öffnet sich der graue Vorhang und gibt den Blick frei auf das mit knapp 40 Instrumentalisten besetzte Orchester der Komischen Oper Berlin in Konzertkleidung. Unter der Leitung der estländischen Dirigentin Kristiina Poska erstrahlt die stilistische Vielfalt dieser Komposition.  In Wilhelm Brückner-Rüggebergs Bearbeitung für tiefe Frauenstimme erklingen Jazz- und Tanzelemente merklich distanziert, aber mit großer Präzision und Brillanz.

Im blau changierenden, halblangen Kleid (Ausstattung: Esther Bialas) exerziert die von 1983 bis 2001 am Deutschen Theater Berlin angestellte Dagmar Manzel Anna I und II als eine schizoide Persönlichkeit. Die auch in der Titelpartie von Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ und an der Komischen Oper als Wirtin „Im weißen Rößl“ gefeierte Darstellerin bewältigt die Gesangspartie mit bruchlosen Übergängen sämtlicher Register. Ihre clownesk gebrochenen, tänzerischen Momente (Choreographie: Otto Pichler) sind auf einer zweiten Ebene stets auch ein Versuch der Aufarbeitung von Trauma und Tabu.  Nachdem Anna die von ihrer Familie in sie gesetzten Erwartungen erfüllt hat, ist sie eine Gebrochene und Gezeichnete; über das Ende des Orchesterparts hinaus kratzt sie sich manisch an der rechten Hand und versucht vergeblich, den Vorhang zu schließen, – aber der hat, wie das gesellschaftliche Leben, seine eigene Dynamik.  Brecht/Weills Ballade vom ertrunkenen Mädchen fügt sie a cappella als Epilog an und verschwindet.

Berechtigte Ovationen des Publikums für die perfekt singende und tanzende Schauspielerin, schließen die Leistungen der anderen Beteiligten mit ein.

Weitere Aufführungen: 22. Februar, 10. März, 9., 13. Juni, 2. Juli 2012.

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