In der unvollendeten „Lulu“, die während der ersten gut vier Jahrzehnte nach Alban Bergs Tod auf den Bühnen zu sehen und zu hören war, lauteten am Ende des zweiten Akts Lulus letzte Worte: „Ist das noch der Diwan, auf dem sich dein Vater verblutet hat?“ Wenn man dazu addiert, dass Lulu diese Frage an ihren aktuellen Lebensabschnittspartner Alwa richtet und dass sie selbst dessen Vater erschossen hat, scheint dieser Schluss dem Prolog Recht zu geben: „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften – und zu morden ...“. Der Rest war Sinfonie und Pantomime. Ob Alban Berg das so gemeint hat?
Friedrich Cerhas Fassung des dritten Aktes, 1979 in Paris uraufgeführt, veränderte den Blick auf Lulu gründlich, aber das vorläufig letzte Wort in dieser Sache kam jetzt von Eberhard Kloke. Er hat, nach bestem Wissen und Gewissen und auf der Basis einer maximalen Materiallage, den dritten Akt gründlich revidiert, wobei Cerhas Fassung gegenüber dem übrigen Material keinen privilegierten Status hatte und das Particell nicht sakrosankt war.
Kloke hat den dritten Akt gestrafft, die formale Geschlossenheit und Stringenz der von Alban Berg selbst noch fertig geschriebenen Akte eins und zwei allerdings nicht ganz erreicht – was bei der epischen Gesamtanlage aber zu verschmerzen ist. Zudem hat Kloke eine Instrumentation erarbeitet, die das Werk auch für kleinere Bühnen spielbar macht, eine schlanke Fassung für ein 28-köpfiges Orchester mit großem Perkussionsapparat, Flügel und Akkordeon. Von einer „Kammermusikfassung“ zu sprechen, würde allerdings irreführende Assoziationen wecken. Thomas Oliver Niehaus hat diese Fassung jetzt am Stadttheater Gießen inszeniert. Die musikalische Leitung lag in den Händen von Herbert Gietzen, und das Ergebnis dieser hybriden Uraufführung rückt in Sachen Lulu einiges zurecht, was endlich zurecht gerückt werden musste.
Zum Beispiel das notorische Raunen von der geheimnisvollen Persönlichkeit der Lulu. Niehaus und Bühnenbildner Lukas Noll erzählen ihre Geschichte ohne vordergründige Effekte, mit subtiler Klarheit und Diskretion als die eines missbrauchten Kindes. Stets haben die Männer ihrer verführerischen Gestalt, also ihr selbst die Verantwortung für alles Schlimme zugeschoben. Daraus hat sie die Konsequenz gezogen, nicht nur die Verantwortung, sondern zunehmend auch die Initiative zu übernehmen. Sie ist damit dem Bild, das die Männer sich und ihr selbst von ihr gemacht haben, immer ähnlicher geworden, ohne damit identisch werden zu können. Lulu ist eine multiple Persönlichkeit, ein Mosaik aus schmerzvoll abgespaltenen Fragmenten, zwischen denen sie changiert und die kein Ganzes ergeben. Sie ist Produkt männlicher Fantasien und Handlungen und als Bühnenfigur eine prototypische Repräsentantin einer radikalen ästhetischen Moderne. Das Mörderische, das ihr angetan wurde, fällt auf die Täter zurück, aber am Ende ist Lulu doch wieder Opfer: Jack the Ripper ist nur der Konsequenteste einer Reihe von Männern, die mit dem alles dementierenden (Vater?) Schigolch angefangen hat.
Die Gießener Inszenierung findet in einem schwarz-weiß dominierten Bühnenbild statt, das das permanente Umstellt- und Umlauertsein Lulus eindringlich verdeutlicht. Ständig stehen fast alle handelnden Personen – auch die Toten – am Bühnenrand und beobachten das Geschehen, bevor sie selbst in die Handlung eingreifen. Zu ihnen gesellen sich, tief gestaffelt und oft symmetrisch ausgestellt, gesichtslose Pappkameraden mit männlichen Konturen. Jede Situation ist hier eine öffentliche Situation. Intimität ist nur eine Rolle, die gespielt werden muss, nur gemordet wird diskret.
Darstellerisch und sängerisch lässt die Gießener Inszenierung wenig Wünsche offen. Alexandra Samouilidou ist eine in allen Lebenslagen leuchtende Lulu, die sich aus Selbsterhaltungsgründen die Fähigkeit zu leiden abgewöhnt hat. Ihre Stimme hat lyrische Intensität, die sie nicht zu falschem Psychologisieren nutzt, sondern für die stimmliche Inszenierung einer permanenten Auflehnungs-Anstrengung gegen das Elend des eigenen Lebens und der Welt. Es ist diese Haltung, die den expressionistschen Kern der „Lulu“ ausmacht. Adrian Gans als Dr. Schön / Jack the Ripper gelangt mit eindrucksvoller baritonaler Präsenz zu einer ähnlich intelligenten Dialektik zwischen virilem Auftrumpfen und situativer Verletzbarkeit. Die paranoide Phase vor dem Ableben Dr. Schöns absolviert er in epischer Manier – nicht empathisch, sondern demonstrativ. Die konsequente Einhaltung einer Brechtschen Distanz zum Geschehen, die nachdrücklich nicht-.psychologische Personenführung ist eine der ganz starken und klaren Seiten dieser Gießener Inszenierung.
Was unter Herbert Gietzens Leitung aus dem Graben kommt, ist von bemerkenswerter Qualität. Klokes Arrangement hat Bergs Musik ihre dramatische Unmittelbarkeit gelassen, die sich ohne harmonische Rücksichtnahme mit den Textkörpern verbündet und verzahnt. Und weil man hier keinen Orchesterapparat hört, sondern eine oft fast solistische, feinsinnig formende Klangarbeit mit hoher Informationsdichte, sieht und hört man zuweilen das Drama wie unter einer Lupe.
Zwischendurch kommt der Akkordeonist für ein Bänkellied aus dem Graben und setzt sich spielend unter die handelnden Personen; so entsteht zugleich eine intime Spielsituation wie eine Distanz zum dramatischen Verlauf. Und wer noch den üppig expressionistischen Orchesterklang der alten Cerha-Fassung (1979 nach der Pariser Uraufführung unter Pierre Boulez eingespielt) im Ohr hat, wird staunen, wie wenig man in Gießen diese Klanglichkeit vermisst und wie klar Eberhard Klokes Bearbeitung alles macht.
Weitere Aufführungen:
20., 27. Mai, 14., 24., 30. Juni