Belcanto-Opern, diejenigen des beängstigend produktiven Gaetano Donizetti zumal, werden gerne als musikalisch minderwertige Vehikel für die Zurschaustellung vokaler Mätzchen ihrer Protagonisten abgetan. Was in der Gattung an künstlerischem Gehalt und dramatischem Potenzial stecken kann, hat Christof Loy nun mit einem exquisiten Ensemble an der Bayerischen Staatsoper unter Beweis gestellt.
Der Regisseur braucht dazu nicht mehr als eine genaue Vorstellung der Personenkonstellation, die er in einer bestimmten Szene auf die Bühne bringen will. Henrik Ahr muss daher lediglich eine Spielfläche und hie und da ein paar Stühle oder einen Tisch bereitstellen. Die Rückwand wird von riesigen Buchstaben beherrscht: Lucrezia Borgias Name steht da, und wo während des Prologs noch Grauabstufungen erkennbar sind, leuchtet es für Gennaro an dessen Ende schwarz auf weiß: Es ist das männermordende Monster, das er da angehimmelt hat. Seine Freunde spielen ihm, die Borgia verhöhnend, verschiedene Todesarten vor.
Im Laufe des Stücks wird Gennaro nicht nur – wie im Libretto vorgesehen – das B des Nachnamens herunterreißen, die Wand verschiebt sich fast unmerklich aus der Szene, die Lettern verschwinden. Nach und nach wird der Blick frei auf den Menschen hinter der düsteren Legende.
Was nicht heißt, dass dieser schmeichelhafter ausfällt. „Man stecke in das Monster eine Mutter…“ – auf diesen brutalen Nenner hat Victor Hugo es im Vorwort seines Dramas gebracht, das dem Libretto zugrunde liegt. Und genau hier liegt das Wunder dieses Abends begründet: Edita Gruberova macht nicht nur den Abgrund glaubhaft, der zwischen diesen Extremen liegt, sondern auch die Zwischenzonen, die Momente des Unentschiedenen, in denen ein Ausbrechen möglich scheint. Gerade die kurzen, beiseite gesprochenen Worte inneren Aufruhrs sind dafür eindringliche Exempel.
Die Sängerin hat eine technische Kontrolle über ihre nicht mehr in allen Lagen selbstverständlich ansprechende Stimme bewahrt, die ihr feinste Abstufungen in Dynamik und Klangfarbe ermöglicht. Ein unglaublicher Pianissimo-Triller im Prolog scheint das Zittern einer Seele hörbar zu machen, der über dem gesamten Ensemble anschwellende Spitzenton steigert sich in ein schmerzlich leuchtendes Forte. Mit süßen Koloraturen versucht sie ihrem Gatten Gnade für Gennaro als königliche Tugend zu verkaufen, um im nächsten Moment anzudeuten, welches Schicksal ihre drei vorherigen Männer ereilt hat… Die finale Szene, in der sie als rächende Greisin mit grauer Perücke auftritt, gipfelt in einem schaurig-schönen Zielton, der alles, auch die Protagonistin selbst, vernichtet. Der Jubel für Edita Gruberova, nach wie vor eine der größten Sängerdarstellerinnen unserer Zeit, kannte keine Grenzen.
Dass sie sich in solche Hochform steigern konnte, das ermöglichte in dieser zweiten Vorstellung auch ein Ensemble, das ihr in allen Belangen Paroli bieten konnte. Franco Vassallo als schmieriger Gatte Don Alfonso mit baritonaler Grandezza, Alice Coote mit reichem, nur an wenigen Stellen nicht voll durchsetzungsfähigem Mezzo und Vittorio Grigòlo als hitziger Gennaro. Dieser schien freilich den Stimmcharakter seiner Rolle bisweilen mit dem eines Puccini-Helden zu verwechseln und schreckte am Ende auch vor Verismo-Schluchzern nicht zurück – ein Stilbruch, dank seines herrlichen Tenors aber auf höchstem vokalen Niveau.
Was schließlich Bertrand de Billy mit dem Bayerischen Staatsorchester aus Donizettis Partitur an rhythmischer Geschmeidigkeit und herrlich abgetönten Bläsermischungen herausholte, strafte – wie diese grandiose Produktion insgesamt – sämtliche Vorurteile über den „Vielschreiber“ endgültig Lügen. Der Belcanto lebt!