Christoph Marthaler, Regisseur aus Zürich, wurde als Musiker mit Schwerpunkt Alte Musik ausgebildet und hat von jeher ein emphatisches Verhältnis zur Musik und zum Musiktheater des 17. und 18. Jahrhunderts. Nun hat er sich mit Laurence Cummings verbunden, dem (neuen) musikalischen Leiter der Göttinger Händel-Festspiele. Der ist ein ausgewiesener Kenner und britisch-geschäftstüchtiger Animator der historisch definierten Musizierpraxis.
Cummings verwies im Vorfeld des experimentell konzipierten Projekts „Sale“ (was so viel wie Aus- oder Abverkauf meint) auf den „human spirit“ der Händelschen Musik. Marthaler und seine Ausstatterin Anna Viebrock zielten mit „Sale“ offensichtlich auf ganz bestimmte Aspekte des „human spirit“ (nämlich die merkantilen – und auf die der Dekadenz einer Kapitalisten-Familie). Dazu zimmerten sie sich aus Suiten und Sonaten von Georg Friedrich Händel, mit Arien aus Opern wie „Alcina“ und „Agrippina“, „Giulio Cesare“ und „Orlando“ sowie aus Oratorien wie „Messiah“ und „Israel in Egypt“, „Saul“ oder „Solomon“ ein Pasticcio zusammen, das sich für die Nutzung mit einer neuen Geschichte eignete.
Die Liebe ende nimmermehr, verhieß der Apostel Paulus seiner Klientel im Namen des Herrn. Aber die Erfahrung des herben Lebens und meist auch die des wahrheitssuchenden Theaters spricht eine andere Sprache. Indem Malin Hartelius in der schon halb leergekauften mittleren Etage eines Kaufhauses die Arie „Endless pleasure, endless love“ aus dem Oratorium „Semele“ von 1744 singt, beschwört sie die große Sehnsucht, die hier (wie im originalen Kontext der Musik) keineswegs auf etwas Transzendentes zielte, sondern auf den Vollzug, die Erfüllung und Perpetuierung von irdischer Liebe. Hier und jetzt.
Die aus den verschiedensten Werken Georg Friedrich Händels neu zusammenmontierten Musiktitel wurden einem Funktionswechsel unterzogen. Die schwedische Sopranistin nimmt die Rolle der Nichte ein in einer Familiengeschichte um die Kaufhausdirektorin Anne Sophie von Otter. Die war gleich zu Beginn, als noch die Preisschilder für den Schnäppchenverkauf justiert wurden, mit der Rolltreppe ins Bild gefahren: selbstbewusst und distanziert zu aller Welt an den Regalen mit Kosmetika, Stoffen und Spielwaren vorbeigeschritten. Sie hatte sich aus einem Schubfach des Etagenaufsichtstischs Glas und Flasche geangelt und einen tiefen Schluck genehmigt. Bevor dann die ganzen lieben Verwandten antanzen, von denen sich zumindest der Großneffe Christophe Dumaux mit seiner bärenstarken Counterstimme recht aggressiv benimmt und z.B. mit den Sockenpackungen vom vorderen Krabbeltisch um sich wirft. Und dann erst die Laufkundschaft! Sie bricht durch den rückwärtigen Haupteingang des Kaufhofs herein: Eine entfesselte Masse, die hysterisch rafft und hamstert und schon auf dem Weg zu Kasse wieder wegwirft. Kaufpanik, nicht Kaufrausch. Die Regie hat das aufmerksam beobachtet und das Ensemble wie die Statisterie sorgt dafür, dass ein Brennspiegel des wirklichen Lebens entsteht.
Christoph Marthaler zeigt die Geschichte des Niedergangs dieser willensstarken Frau und ihres Unternehmens, die Dekadenz der weit verzweigten internationalisierten Familie mit feinen Gesten und subtiler Ironie – eine sensible Familien-Anamnese also. Und zugleich lässt er in Portionen die Kurzgeschichte „Die Maske des Roten Todes“ von Edgar Allan Poe erzählen. Mit ihr wurde der Kundschaft des Züricher Opernhauses – es ist, soziologisch gesehen, eine recht besondere Personengruppe – vor Ohren gebracht, dass die Abschottung, die Prinz Prospero mit der Elite seines Reichs vollzieht, das Zuschlagen einer rätselhaften Seuche und das Massensterben nicht verhindern, nicht einmal sonderlich lange aufhalten kann. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Gerade hier, am Bankenplatz Zürich, riecht schon der Titel „Sale“, erst recht aber die mit viel Spielfreude ausgezeichnete doppelchörige Geschichte vor der Folie einer prächtigen, dann auch traurigen und wieder tröstlichen Musik nach einer nicht ganz reibungsfreien Gemengelage.
Doch das Premierenpublikum reagierte – abgesehen von ein paar wütenden Buhs gegen Marthaler und Viebrock – ganz überwiegend positiv. Wie rechte Protestanten eben, denen der Geistliche in der Predigt eben wieder einmal die Leviten gelesen hat. Der Liquidator des Kaufhaus-Endspiels steht – es ist eine der stärksten Szenen – kurz vor Schluss der mit Verve musizierten Händel-Revue vor dem Etagenaufsichtstisch wie vor einem offenen Grab; die Familie tritt im Gänsemarsch zum letzten Defilee an und einer nach dem anderen schüttet mit dem Portionierungslöffel ein Schäufelchen Waschpulver aus dem Persil-Supersparpaket als ultimativen Gruß hinter die Kante. Das erinnert nicht zuletzt auch an den Löschkalk, der im 18. Jahrhundert aus hygienischen Gründen in die Gruppen-Gräber gestreut wurde.
Dass Bilder wie selbst dieses so weitgehend akzeptiert wurden, dürfte wesentlich am Orchestra La Scintilla gelegen haben, der Spezialformation aus den Reihen der Züricher Opernmusiker, die von Laurence Cummings energisch und differenziert angeleitet wurde. Cummings und Marthaler trumpften nicht mit Kapitalismuskritik auf, verschonen sich und ihre Kundschaft mit Kritik an Kulturindustrie oder gar „Barockmusik“-Konsumverhalten. Sie konstituieren einen nachdenklichen Abend mit aufgebrochener musikalischer Schönheit, der zum Nachdenken anstiftet.