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Ein Jahrhundertsprung in fünfzehn Jahren

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Die Staatsoper Stuttgart unter ihrem Spiritus rector Klaus Zehelein · Von Gerhard Rohde
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Es wird oft geklagt: Die Oper habe keine Zukunft mehr. Das Stammpublikum sei überaltert und sterbe langsam, aber sicher weg. Die Jugend interessiere sich nicht mehr besonders für Opas Dampfoper. Eine neue Politikergeneration schon gar nicht. Diese schielt vor allem auf so genannte Events. Salzburger Festspiele mit Anna Netrebko ja, das eigene Stadttheater kann doch gut mit weniger Subventionen auskommen.

Diesen grassierenden Tendenzen gilt es energisch entgegenzutreten. In Opernaufführungen landauf, landab sieht man durchaus Jugendliche, und zwar erfreulich viele. Und bei einigen Politikern setzt allmählich hier und dort ein Umdenken ein: Die Musik scheint für Menschen jeden Alters, besonders aber für Heranwachsende, doch nicht ganz so überflüssig zu sein. Wenn sich die Situation also allmählich zum Positiven ändern sollte, wird der Ball sozusagen zurückgespielt: zu den Kulturschaffenden. Sie müssen durch ihre Arbeit beweisen, was Kunst, Musik, Theater, Literatur, auch Film und andere neue Medien, für das Leben der Menschen bedeuten können. Das gewinnt quasi eine existentielle Dimension. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, so in etwa sagte es Nietzsche.

Der Anlass für derlei Überlegungen ist ein konkreter: Klaus Zehelein verlässt nach fünfzehn Jahren die Staatsoper Stuttgart. In dieser Zeit hat er als Intendant das Haus zu einem, genauer: zu dem führenden Opernhaus nicht nur in Deutschland, sondern in Europa gemacht. Das Geheimnis Zeheleins ist dabei gar keines gewesen: Man kann Opern einfach aufführen, hübsche Bühnenbilder, gute Sänger, ordentliches Orchester (Wiener Philharmoniker), aber man kann auch erst einmal darüber nachdenken, warum man ein Werk und wie am besten aufführt, was das Spannende, Zeitlos-Aktuelle, geistesgeschichtlich Relevante bei einer bestimmten Oper ist.

Das Nachdenken braucht dabei nicht das Opernkulinarische verdrängen. Auch der Geist kann sinnlich sein, Intelligenz schadet auch der Oper nicht. Im Gegenteil: Die Oper selbst ist doch seit mehr als vierhundert Jahren ein Ergebnis hochreflexiver Überlegungen, die Vereinigung aller Künste im Theater, von Monteverdi bis Lachenmann und bis zu den jüngsten Komponisten, die mit den neuen medialen Ausdrucksmitteln die Gattung Oper bereichern.

Es hieße die bekannten Eulen in die griechische Hauptstadt tragen, würde man jetzt penibel aufzählen, was in der Ära Zehelein an der Stuttgarter Oper alles geschehen ist. Wer die Arbeit Zeheleins bewerten will, muss ein wenig zurückblenden, in die Zeit, als der in Frankfurt am Main geborene Adorno- und Habermas-Schüler mit dem Dirigenten Michael Gielen den Stil der „Gielen-Oper“ entscheidend prägte. Zehelein war der dramaturgische Kopf des Unternehmens, Gielen die musikalische Autorität. Das hohe Ansehen der Frankfurter Oper war sicher mit ein Grund, dass sich Stuttgart danach für Zehelein als Intendant entschied. In Stuttgart formte Zehelein sozusagen das Frankfurter Modell konsequent weiter aus. Präzis durchdachte Aufführungen des traditionellen Repertoires (wichtig die italienische Oper), intensiver Einsatz für die Moderne – Luigi Nonos „Al gran sole“ und „Intolleranza“, Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ avancierten zu Modellaufführungen –, aber auch eine höchst ergiebige Erkundungsfahrt zurück zu den Opernquellen, zu Monteverdi, Händel, Gluck, brachten hinreißende Erlebnisse, die Geist und Seele gleichermaßen berührten.

Zehelein hatte dabei das Glück, in Lothar Zagrosek einen kongenialen Mitstreiter als Generalmusikdirektor zu gewinnen sowie eine Reihe wichtiger ständiger Regisseure, wie Martin Kusej, Jossi Wieler oder Peter Konwitschny Und in Pamela Rosenberg die Spürnase für Sänger, die dafür sorgte, dass in Stuttgart auch das Zentrum der Oper nicht aus dem Blick geriet: der Gesang.

Die vielleicht zukunftsträchtigste Tat Zeheleins war die Einrichtung eines Forums für Neues Musiktheater. In einem eigenen Haus draußen in Cannstatt im Römerkastell konnten Komponisten und Musiker, Regisseure, Videokünstler, Tänzer und Bühnenbildner an der Zukunft der Oper arbeiten. Ein höchst produktives Laboratorium, das jeweils am Ende einer Arbeitsphase das Ergebnis der Öffentlichkeit vorstellte. Die Zukunft dieser Institution ist nach Zeheleins Abgang nicht gesichert. Es geht wieder einmal um Finanzielles. Nachdem Stuttgart mit seiner Oper, mit dem „Éclat“-Festival und, in diesem Jahr, dem IGNM-Weltmusikfestival zu einer Art Welthauptstadt der Neuen Musik aufgestiegen ist, wird man doch nicht wegen einer vergleichsweise kleinen Summe die Existenz des wichtigen Musiktheater-Forums aufs Spiel setzen. Andere Städte signalisieren bereits Interesse an Zeheleins Erbschaft.
Zehelein selbst zieht sich nicht in den Ruhestand zurück. Als Präsident der Bayerischen Theaterakademie wird er auf dem Thron August Everdings darüber wachen, dass dem deutschen Theater nicht von uneinsichtigen Kräften die Luft zum Atmen genommen wird. Das Stuttgarter Opernmodell aber muss weiter in die Zukunft wirken.

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