Statistiken sind immer auch eine Frage der Deutung. Sieht man sich die offiziellen Zahlen an, dann steht es um die Branchenmesse Midem in Cannes, die in diesem Jahr sogar mit einem kleinen, 45. Jubiläum über die Bühne ging, gar nicht so schlecht. 30 % der Aussteller sind heuer zum ersten Mal dabei, sogar noch ein wenig mehr (33 %) lassen sich zum ersten Mal als Besucher an der Côte D'Azur blicken. Inhaltlich sind die Steigerungsraten in einigen Segmenten beachtlich. Allein 29 % mehr Teilnehmer aus dem technischen und digitalen Sektor sind zu verbuchen, immerhin 25 % mehr beim Publishing.
Auf der anderen Seite aber beschleicht einen beim Gang durch die Ausstellungsräume des Palais des Festivals einen leises Gefühl des Abschieds. Denn die Hallen sind leer, geschickt durch Trennwände und Aufteilungen abgemildert, aber im Großen und Ganzen im Vergleich zu früheren Jahren erschreckend unterbevölkert. Auch das lässt sich an den offiziellen Zahlen ablesen. Statt 1.888 Ständen im vergangenen Jahr waren es in diesem Jahr nur noch 170. Die meisten Teilnehmer haben sich unter die Dächer großer, zumeist nationaler Gemeinschaftsstände begeben, insgesamt sind 5 % rechnerischer Rückgang der Messebesucher nach Angaben der Midem von 7.200 (2010) aus 6.840 (2011) zu beklagen.
Für Kulturpessimisten, die den endgültigen Niedergang des Business bewahrheitet sehen, ist aber trotzdem nur bedingt Platz. Denn die Midem bildet in ihren Aktivitäten – und übrigens auch im beachtlich reduzierten Konzertprogramm – nur einen Trend ab, der die Branche mit zunehmender Vehemenz erreicht: Musik als Geschäft wird immer deutlicher zum Handel mit Datensätzen. Es verlegt sich vom Realen weiter ins Virtuelle und braucht daher auch keine Messestände mehr, sondern passt in einen Laptop. Oder ein Smartphone.
Ein paar Beispiele. Shailendra Pandey, Senior Analyst des britischen Datendienstes Informa Telecoms & Media machte in seinem Vortrag den Anwesenden die Bedeutung so genannter Apps für den Informationsaustausch und Handel klar. Diese Miniprogramme, die man sich auf das Smartphone oder iPad lädt, sind inzwischen die Basis des Erfolgs des Apple iPones, weil sie eine schier unendliche Service- und Entertainmentwelt versprechen. Nur eine Zahl: Im Januar 2009 gab es im Apple Store gerade 496 Apps zum Downloaden. Genau zwei Jahre später waren 13.912 Apps im Angebot zu alles und jedem Thema.
Und diese Programme werden nicht nur von Auftragsprogrammierern hergestellt, sondern auch von Hobbyvisionären, die beispielsweise bei eigens veranstalteten „Hack Days“ – neudeutsch für Programmierarbeitsgruppe – zur eigenen Freude in zufälligen Work Communities allerlei Schnickschnack erfinden. Zum Beispiel den Hack „The Swinger“, der als Remix-Tool aus jedem Stück einen Swing-Track macht. Oder den Hack „Citysounds“, der Playlists zusammenstellt mit Songs, die in bestimmten Städten besonders gerne gehört werden. Oder der Hack „Hackey“, der dem Konsumenten sagt, welche Tonart die meisten der eigenen Lieblingsstücke haben. Oder der Hack „6 Degrees Of Black Sabbath“, der in sechs inhaltlichen Schritten jeden beliebigen Künstler (etwa Johnny Cash mit Lady Gaga) miteinander verbindet.
All das braucht eigentlich niemand. Aber es zeigt, dass es die digitale Unterhaltungsindustrie inzwischen meisterhaft beherrscht, Bedürfnisse zu schaffen, wo früher keine waren. Apps dienen dazu, die Freude am technischen Wunderwerk zu erhalten und sie sind eine der zukunftsweisenden Motivationen, Musik als „Content“ nicht zu vergessen, weil man sie als Ausgangsbasis für den eigenen Spieltrieb braucht. Und die eigentliche Entwicklung geht noch weiter.
Denn das magische Stichwort dieser Midem war Cloud Computing. Sony stellte seinen Cloud-basierten Musikdienst „Music Unlimited powered by Qriocity“ vor, übrigens hierzulande bereits rechtlich abgesegnet durch Lizenzverträge mit der Verwertungsgesellschaft Gema, die bei dieser Gelegenheit in Cannes gleich den Deal mit dem Sony-Dienst bekannt gab, und basierend auf den Datenbergen, die das amerikanische Unternehmen Gracenote angesammelt hat. Der Grundgedanke solcher Cloud Services ist tatsächlich verblüffend: So werde, hieß es bei der Präsentation, eine reale Plattensammlung überflüssig. Musik existiere unabhängig vom Ort nur noch als Zugriff auf eine Datenbank, am besten über ein Smartphone oder ähnliches portables Gerät.
Damit sich der Hörer in der Menge der (bei Music Unlimited bislang 6 Millionen Titel) auch zurecht findet, helfen ihm Cloud-basierte Empfehlungssysteme der Machart „Wenn-dir-dies-gefällt-dann-gefällt-dir-vielleicht-auch-das“, die inzwischen auf lernfähigen und durchaus pfiffigen Algorithmen aufbauen. Solches Cloud Computing funktioniert nach einer Lernphase des Programms ohne weitere menschliche Eingriffe durch zielstrebiges, logisches Verfeinern der Auswahlkriterien. Damit wird endgültig der Plattenhändler, der Rezensent, der Spezialist überflüssig und Musikhören wird zum autopoietischen Kunstgenuss.
Auf diese Weise wird aber auch ein Branchentreffen wie die Midem, zumindest theoretisch, zum Anachronismus, der durch ein virtuelles, sich selbst weiter erschaffendes Netzwerk ersetzt werden könnte. Erste Anzeichen dieses Trends haben der Musikmesse in diesem Jahr bereits klar zugesetzt. Diesem Trend entgegen zu wirken – damit hat der frühere Sony-Mann Bruno Crolot, der mit der Ausgabe der Midem im Jahr 2012 das Erbe der scheidenden Messechefin Dominique Leguern antritt, eine anspruchsvolle Aufgabe vor sich.