„Etwa 98 Prozent dieses Bestands war der Forschung bisher völlig unbekannt“, sagt der Musikforscher Dr. Friedhelm Brusniak. Mit seiner Mitarbeiterin Hanna Zühlke verschafft sich der Würzburger Universitätsprofessor derzeit einen Überblick über rund 3.000 handschriftliche und gedruckte Quellen aus dem früheren Nürnberger Sängermuseum. Eine mühsame Angelegenheit. Die originalen Notenblätter, signierten Fotografien, Skizzen und Briefe sind in einem „völlig unwissenschaftlichen“ Bestandsverzeichnis aufgelistet.
Dem ehemaligen Nürnberger Museumsleiter Emil Fladt war seinerzeit die Möglichkeit verschlossen, das, was in das von Sänger Ernst Seiferth inspirierte, 1925 eingeweihte Sängermuseum kam, wissenschaftlich aufzuarbeiten. „Es wurde damals alles gesammelt, gerade so, wie es hereinkam“, sagt der Chorforscher. Und herein kamen Unmengen. Wie groß der Bestand wohl war? „Die Signaturen gehen in die 20.000er Zahlen hinein. Wir gehen derzeit von ehemals zirka 30.000 Quellen aus.“ Der größte Teil des Bestands wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört, viele im Sängermuseum aufbewahrte Dokumente, etwa Wagners Skizzenblätter zu Lohengrin, gelten seither als verschollen.
Schon zu Bestehenszeiten des Museums wäre es wünschenswert gewesen, die Bestände zu erforschen, um die Geschichte des deutschsprachigen Männergesangs zu rekonstruieren. Doch es sollten rund 85 Jahre vergehen, bis sich Brusniak als erster Forscher daran machte, das Material zu sichten. Allein die vor 20 Jahren begonnene Suche nach den Restbeständen des einst üppigen Archivs gestaltete sich abenteuerlich. Den größten Teil fand Brusniak im Stadtarchiv Essen. Dort war es 1962 anlässlich der Austragung der 100-Jahr-Feier des Deutschen Sängerbundes hingelangt. Die Autographen wurden dort allerdings nur gehortet. Niemand gab sie der Forschung preis.
Auch war keine der Stellen, die Brusniak als Lagerstätten für die kostbare Autographensammlung ausfindig machte, ohne Weiteres bereit, den Quellenschatz an den damaligen Leiter des Feuchtwangener Chorforschungszentrums abzutreten. Erst Mitte der 1990er-Jahre konnte Brusniak das, was er in Essen, Köln und der Musikstadt Trossingen aufgestöbert hatte, in Feuchtwangen zusammenführen. Viel Geld floss, um die historischen Vereinsmagazine und Festschriften, die Notenmanuskripte und Briefe von Robert Schumann, Franz Liszt und Johannes Brahms auszulösen. Einige Autographen sind laut Brusniak in äußerst desolatem Zustand: „Zum Beispiel ein Liszt-Brief.“
Obwohl die Zeit drängt, schließlich soll ein größerer Teil des Quellenschatzes im Juni 2012 bei der 150-Jahrfeier des Sängerbundes in Frankfurt präsentiert werden, sieht Brusniak keine Alternative zu einem äußerst akribischen Vorgehen bei der Verifizierung der Quellen. Ein Netz von 20 germanistischen, kulturgeschichtlichen und musikwissenschaftlichen Spitzenforschern – Liszt- und Schillerexperten, Forscher über Hugo Wolf und Johannes Brahms – wird derzeit geknüpft, um die Autographen zweifelsfrei identifizieren zu können. Zeitgleich bereitet Brusniak die Publikation der wertvollsten Autographen aus dem „Quellenschatz allerersten Ranges“ als Zimelienband vor.
In den bisher gesichteten Briefen formulieren Komponisten ihre Meinung über Kollegen aus, die Entstehung ganzer Konzerte lässt sich nachvollziehen, Insiderinformationen aus dem damaligen Musikgeschäft sowie Musikernetzwerke werden bekannt. Zu den Highlights der Schriftstücke zählt ein Brief von Johannes Brahms an die Altistin Hermine Spies. Zweifelsfrei identifiziert werden konnte inzwischen auch ein Autograph von Schiller durch einen Experten des Marbacher Literaturmuseums. Als derzeit ältestes Schriftstück aus dem Restbestand gilt ein Autograph von Christian Fürchtegott Gellert, das aus der Zeit um Mitte des 18. Jahrhunderts stammt. Einiges gab es bereits bei der Dortmunder chor.com zu bestaunen. Im Juni soll es anlässlich der 150-Jahrfeier des Fränkischen Sängerbundes eine zweite Ausstellung in Frankfurt geben. Eine weitere Schau ist für den 21. September 2012 zum Gedenken an die Gründung des Deutschen Sängerbundes in Coburg geplant. Hier sollen auch Chorwerke aus dem Archiv zur Aufführung kommen. Bis Ende 2012 möchte Brusniak schließlich die Bestände digital erfasst haben – wozu eine „hochkarätige Bibliothekskraft“ notwendig sei. Einige 100.000 Euro werde das Katalogisierungsprojekt voraussichtlich kosten, so der Musikforscher. Woher die Mittel fließen, steht derzeit noch nicht fest.