Hauptrubrik
Banner Full-Size

Ein Radikaler im öffentlichen Schreibdienst

Untertitel
„Heute Morgen“: Rainald Goetz verwandelt seine Bücher der späten 90er-Jahre in Text-Musik
Publikationsdatum
Body

Rainald Goetz: Heute Morgen. Rave, Jeff Koons, Celebration, Abfall für alle, Dekonspiratione, gelesen vom Autor, Musik: Rainald Goetz und Westbam, 2 CDs, Hörverlag.

Rainald Goetz: Heute Morgen. Rave, Jeff Koons, Celebration, Abfall für alle, Dekonspiratione, gelesen vom Autor, Musik: Rainald Goetz und Westbam, 2 CDs, Hörverlag. Merkwürdigerweise scheint ausgerechnet Rainald Goetz vom raschen Verfall und der lang anhaltenden Baisse der einst hoch gehandelten Aktie „Pop-Literatur“ nicht im mindesten betroffen.

Erstaunlich ist das freilich nur für den raschen, oberflächlichen Blick. Zwar war der promovierte Historiker und Psychiater, der mit seinem semi-autobiographischen Debüt „Irre“ und einer legendären Bachmann-Preis-Lesung den Hirn-Schnitt in der deutschen Literatur populär gemacht hatte, Mitte der 80er-Jahre als später Sounds- und Spex-Aficionado vielleicht der Erste, der Pop-Musik zum Thema einer hocherregten und -abstrakten Dauer-Reflexion machte, aber sein Schreiben war so zerrissen, „vertrackt“, durch Zitat und Begriff vermittelt, dass es mit dem feuilletonistischen Parlando und der Gratis-Frechheit der sogenanntes Pop-Literatur der späten 90er-Jahre kaum etwas verband. Für Goetz war „Pop“ nicht bequeme Sprechweise, sondern zuerst Medium seiner Hass-Attacken auf eine Hochkultur, die er als beschwichtigenden Begleittext zur verdinglichten Warenwelt des Spät- und Hyper-Kapitalismus verstand; später dann das Feld einer gnadenlosen, nietzscheanischen Affirmation, die subversiver wirkte als bloße Kritik.

Goetz war von Anfang an beides: ein Radikaler im öffentlichen Schreibdienst; und ein hingebungsbereiter Mystiker auf der Suche nach dem großen, auslöschenden Glück. Seine Methode war die „Lektüre“ der Text gewordenen Welt; er selbst nannte diese manische Lesewut, bewusst paranoid, „Kontrolle“; und rasch auch eine oft schon hysterische Wirklichkeitsmitschrift, die dem, was gerade geschieht, auf die Spur kommen will. „1989“ protokollierte er noch weitgehend vor dem Fernseher hockend. In den 90er-Jahren tauchte er, ein frisch von Acid-House Bekehrter, ins Nachtleben der Clubs und Raves ein, entdeckte in der permanenten Party eine systemsprengende Utopie und schickte sich an, diese Erfahrung von Sex, Rausch und überschreitender, „tranciger“ Musik in Text zu verwandeln. Einen Extrakt aus diesen fünf Büchern, die mal als Internet-Tagebuch („Abfall für alle“), mal als Prosa-Party („Rave“), dann wieder als artsy-Bühnenstück („Jeff Koons“) oder als poetologisch vertrackte, das eigene Entstehen andauernd mitthematisierende Erzählung („Dekonspiratione“) daherkamen, veröffentlicht Goetz jetzt als Hörbuch und sorgt zusammen mit Party-Mate Westbam dafür, dass die Wort-Musik gewissermaßen einen dubbigen Generalbass bekommt.

Das Faszinosum dieser Nightlife-Protokolle besteht nicht zuletzt darin, dass da einer die Regeln der Enthemmung untersucht, der selber eher ein Kontroll-Freak ist. Tag und Nacht, lautete damals das anstrengende Programm für ein Doppel-Leben. In „Celebration“ formulierte er, was er sich vom Dauer-Rave erhoffte: „Auslöschung von Erinnerung, Bewusstsein, Reflexion, Vernichtung von Geschichte.“ Das klingt nicht nach Entertainment, sondern nach dem Prinzip einer Daseins-Revolution: „break on through to the other side“, hieß das in den späten 60ern. Der Intellektuelle Goetz suchte den anderen Zustand sogar und partout im Wummern der Love Parade. Wo die meisten nur die Parttime-Parodie der herrschenden Verhältnisse, eine Art alternativen Fasching entdecken konnten, sah Goetz die Erlösung vom Zwang oder zumindest den Vorschein eines befreiten Lebens.

Was Goetz’ Projekt, selbst dort, wo er sich täuscht, exemplarisch und lehrreich macht, ist das Obsessive seiner Mit-Schrift. Er lässt nichts aus; er dokumentiert umfassend; wenn er Mythen kreiert, lässt er zu, dass man ihm dabei zuschauen kann. Goetz’ Text- und Sound-Collagen versammeln alles, was ist – und wie es ist. Es ist eine Art Second-Hand-Authentizität, die unter seiner Sucht nach dem kleinsten Detail und den großen Zusammenhängen implodiert. Karl Marx träumte einst davon, den versteinerten Verhältnissen „ihre Melodie“ vorzuspielen und sie dadurch zum Tanzen zu bringen; Goetz hat die Bässe dazu – und er kennt die richtigen DJs.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!