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Titelseite der nmz 2017/04.
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Eine Dauerfrequenz hält sich hartnäckig

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Neue Konzerthäuser, mehr Veranstaltungen – eine klassische Trendwende ? · Von Juan Martin Koch
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Wenn die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) – sonst eher für mahnende Worte angesichts abgewickelter oder fusionierter Klangkörper zuständig – eine frohlockende Pressemitteilung herausgibt, lässt das aufhorchen. „Ich bin überzeugt, dass wir gerade den Beginn einer Trendwende im Klassikbereich erleben“, gab Geschäftsführer Gerald Mertens Ende Februar anlässlich der Veröffentlichung der neuen DOV-Konzertstatistik zu Protokoll, die einen „Veranstaltungsrekord“ vermeldete. Grund zu Euphorie also?

Lange schon tönen uns die Krisenmeldungen zum Niedergang des traditionellen Konzertlebens in den Ohren. So lange, dass wir, geübten Tinnitus-Patienten gleich, gelernt haben, sie als stetige Begleiter hinzunehmen. Allmählich werden aber auch andere Frequenzbereiche wahrnehmbar, vornehmlich aus neu eröffneten Konzertsälen, sei es im Bayerischen Wald (Blaibach), im Ruhrpott (Musikforum Bochum) oder in Hamburg (Elbphilharmonie). Unter welch unterschiedlichen Vorzeichen die beiden letzteren an den Start gegangen sind, ist in unserem Themenschwerpunkt ab Seite 17 nachzulesen. Quantitativ haben die beiden neuen Häuser das städtische Musikleben schon deutlich belebt, die mittel- und langfristigen Effekte werden noch genauer unter die Lupe zu nehmen sein. Mit dem Pierre Boulez Saal in Berlin ist nun ein weiterer, etwas anders gearteter Ort hinzugekommen, Ende April steht die Wiedereröffnung des Dresdner Kulturpalastes mit runderneuertem Konzertsaal an, 2019 soll die „TauberPhilharmonie“ Weikersheim starten …

Der große Zulauf für die neuen Spielstätten kann, von der allgemeinen Neugierde auf eine vor allem im Hamburger Fall medial maximal gehypte architektonische Attraktion abgesehen, auch als Indiz dafür gewertet werden, dass Musiker und Publikum sich gleichermaßen nach Orten sehnen, die wirklich für Konzerte gemacht sind.

Musik ist als Raumkunst in hohem Maße davon abhängig, wo sie erklingt, welche Resonanz sie entfalten kann, unter welchen Bedingungen sie gehört wird. Nachdem Veranstalter und Festivals lange Zeit versucht haben, altes und neues Publikum dadurch zu reizen, dass ungewöhnliche „Locations“ aufgesucht, leer stehende Fabrikhallen in Besitz genommen und in Wandelkonzerten der Zwang zum Stillsitzen aufgehoben wurde, scheint sich auch hier eine „Trendwende“ bemerkbar zu machen. Selten ist auch abseits der Fachmedien so viel von Akustik, Nachhallzeiten und idealen Hörerplätzen die Rede gewesen wie in den vergangenen Monaten. Wenn dann auch noch die Programmmischung stimmt – Daniel Barenboim hat für sein Boulez Ensemble ein nachdenkenswertes, jede Ghettoisierung ablehnendes Ideal formuliert (siehe Seite 8) – und die neuen Säle flexibel dafür nutzbar sind, könnten von ihnen tatsächlich auch qualitativ neue Impulse ausgehen.

Den Krisendauerton maßgeblich bestimmt hatte in den vergangenen Jahren die Warnung vor der Vergreisung und dem somit unaufhaltsamen Aussterben des Klassik-Publikums. Konzerthäuser ließen sich mit der Aussicht, ein „Publikum von morgen“ heranzüchten zu können, von der Notwendigkeit überzeugen, eigene „Education“-Abteilungen aufzubauen. Auch die deutschen Kulturorchester verstärkten ihre Angebote in diesem Bereich deutlich, sodass sich die entsprechenden DOV-Zahlen in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt haben: auf nun über 5.000 „musikpädagogische“ Veranstaltungen in der Spielzeit 2015/16. Die 2009 erfolgten Veränderungen im Tarifvertrag, die diesen „Diensten“ einen offiziellen Status verliehen, haben die positive Tendenz nach einer kleinen Delle in den Folgejahren nun offenbar doch stark befördert.

Auch das ist zunächst einmal eine rein quantitative Erkenntnis. Darüber, wie durchdacht, gehaltvoll und mitreißend diese Familienkonzerte oder Schulworkshops wirklich ausfallen und wie sie nachwirken, sagt die DOV-Statistik nichts aus. Und bis die Musikvermittlung als akademisches Fach so weit etabliert ist, dass sie hier über punktuelle Untersuchungen hinaus fundierte Erkenntnisse liefern könnte, wird es wohl noch eine Weile dauern.

„Konzerte und klassische Live-Musik im Theater oder auf Musikfestivals haben vierzig Prozent mehr Besucher als die 1. Bundesliga im Fußballstadion.“ Musikaffine Lokalpolitiker hätten sich, so Gerald Mertens gegenüber der nmz, schon für diese griffige Formulierung in der DOV-Mitteilung bedankt. Vor deren Verwendung und vor dem Winken mit den Zahlen der durch entsprechende Angebote erreichten Schülerinnen und Schüler muss indes gewarnt werden. Allzu schnell könnte der Eindruck entstehen, damit sei alles auf einem guten Weg. Dass dem nicht so ist, zeigen die Zahlen zum Ausfall des schulischen Musikunterrichts, eine weitere deprimierende Dauerfrequenz, an die wir uns allzusehr gewöhnt haben. Amerikanische Verhältnisse, wonach die Konzerthäuser und die großen Orches­ter, von privatem Sponsoring abhängig, mit ihrer Präsenz in Schulen den Musikunterricht praktisch ersetzen, können nicht das Ziel sein. Ohne das solide Fundament musikalischer Bildung droht den neuen Konzertsälen das Schicksal von Kartenhäusern – Trendwende hin oder her.

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