München ist eine Musikstadt. Mit zwei großen Operntheatern und drei großen Orchestern. Und einem Konzertsaal, dessen Akustik den Musikern, auch vielen Zuhörern nicht gefällt: In der Gasteig-Philharmonie. Die Stimmen mehren sich, dass München endlich einen für eine Musikstadt adäquaten Konzertsaal benötigt. Der Chefdirigent des Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons, schwingt sich zum Wortführer auf. Unterstützung findet er in musik- und kunstliebenden Kreisen des Münchner Bürgertums, sofern diese sich noch für die Bedeutung eines musikalischen Lebens in einer Bürgergemeinde verantwortlich fühlen. Was wäre zu tun?
Wenn wir das Jahr 1945 schrieben, wären wir glückselig, wenn wir einen Konzertsaal wie im Gasteig vorfinden würden. Hauptsache, Musik erklingt. Alles andere wäre zweitrangig. Die Ansprüche sind gestiegen. Auch das ist verständlich. Wie also müsste ein moderner Konzertsaal für eine moderne Musikstadt aussehen? Wie der Goldene Saal des Wiener Musikvereins? Oder die Berliner Philharmonie? Oder Nouvels Luzerner See-Philharmonie? Fragen über Fragen! Wer nur an die Aufführung von Beethoven-und Brahms-Sinfonien, an Schubert, Schumann und Bruckner denkt, braucht nicht länger nachzudenken. Er könnte immer nach Wien reisen – der Goldene Saal wäre für alles perfekt. Aber schon Mahlers Sinfonien sprengen die Dimensionen eines klassischen Konzertsaals.
In München sind seit langem Diskussionen über mögliche Lösungen des leidigen Konzertsaalproblems an der Tagesordnung. Dabei gewinnt man als Außenstehender den Eindruck, dass alle Beteiligten nur an einen Goldenen Saal für München oder an eine Berliner-München-Philharmonie denken. Entsprechend werden vorhandene Liegenschaften wie der Marstall ins Gespräch gebracht. Alle diese Vorschläge und Überlegungen greifen zu kurz. Man kommt nicht umhin, auch das aktuelle kompositorische Schaffen in die Planungen einzubeziehen.
Raumklang, elektronische Klanggestaltungen, Aufgliederungen des tradierten Orchesterapparats, um nur einige Beispiele zu nennen, haben die ästhetischen und dramaturgischen Ideen gegenwärtiger Komponisten bemerkenswert erweitert. Wer das erste Konzert der „musica viva“ im Herkules-Saal der Residenz gerade erlebt hat, konnte feststellen, dass das neue Werk von Vykintas Baltakas – „Scoria“ für Orchester – mit den drei im Raum des Herkulessaales postierten Ensembles nicht unbedingt optimal angeordnet war. Die Klangebenen vermischen sich, je nach Platzwahl im Zuschauerraum, zu einem akustischen Einheitsbrei. Eine bessere räumliche Anordnung würde die „Einsicht“ in die kompositorischen Absichten bestimmt erleichtern.
Mit anderen Worten: Ein neuer Konzertsaal für München kann nicht aus der Herrichtung alter Liegenschaften entstehen, sondern nur aus einer neuen, nach vorn gedachten architekturalen Konzeption, in der nicht nur das klassische Repertoire, sondern auch die Moderne ihren angemessenen „Klangraum“ findet. Das Beispiel der Pariser „Cité de la Musique“ mit ihren variablen Raumaufteilungen könnte vorbildlich sein, obwohl dort die starre Ranganordnung immer noch ein Hindernis für einen „mobilen Raum“ bedeutet. Gleichwohl hinterließ Boulez’ „Rituel“ für Bruno Maderna dort mit der kreisförmigen Aufstellung der Instrumentalgruppen einen zwingenden Eindruck. Solche Darstellungen Neuer Musik müssten auch in einem zunächst noch imaginären Münchner Konzertsaal möglich sein.
Als Fazit könnte man ziehen: Darüber, ob die Stadt München einen neuen, besseren Konzertsaal benötigt, mögen Münchens klassisch orientierte Musikfreunde befinden. Entscheidend jedoch ist, ob sich die neben Wien und London wichtigste Musikstadt (der Welt) endlich einen adäquaten Raum für die Darstellung jeder Musik leisten will. Das darf man ruhig eine Herausforderung nennen. Ob München diese Herausforderung annimmt, steht vorerst in den Sternen. Aber man wird die Stadt und den mit ihr verbandelten Freistaat in Zukunft daran messen müssen.
Unabhängig von diesen aktuellen Fragen ist auch die Vorbildfunktion des Münchner Musiklebens. Seit sechzig Jahren existiert die einst von Karl Amadeus Hartmann begründete „musica viva“, eine Einrichtung des Bayerischen Rundfunks und seines Symphonieorchesters, die in hunderten von Uraufführungen an der Geschichte der Neuen Musik mitgeschrieben hat. Mit der Gründung des BR-Klassik-Labels kommen diese unermesslichen Schätze nach und nach wieder ans Licht (Ohr!) der musikinteressierten Öffentlichkeit. Die Bayerische Staatsoper engagiert sich, nicht genug, von Zeit zu Zeit für die Moderne, die Münchner Biennale, von Hans Werner Henze gegründet, gehört zu den Zentren eines modern orientierten Musiktheaters, von dem aus wesentliche Impulse auf die gesamte Szene ausgehen.
Und auch an den so genannten „Rändern“ des Münchner Musiklebens existieren genügend Gruppierungen, die, jede auf ihre Art, zum musik-geistigen Leben Münchens beitragen.
Alles könnte sich in einem neuen Zentrum um einen intelligent konzipierten Musiksaal konzentrieren. München leuchtet, schrieb einst Thomas Mann. München klingt, möchte man den Ausspruch abwandeln. Nicht nur nach gestern, sondern auch nach Erich Urbanner, Tom Sora, Marco Stroppa und Vykintas Baltakas, deren Novitäten gerade das erste der diesjährigen Musica viva-Konzerte zierten. Der Musikstadt München fällt eine Vorbildrolle für das ganze Land zu. Das möchte man allen Entscheidungsträgern ins Stammbuch schreiben.