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Der Terminkalender des an neuer Musik Interessierten läßt zu dieser Zeit keinen Ausweg. Wenn es Herbst wird, darf/muß er ran. Da sind nicht nur die Eckpfeiler, also das Musikprotokoll im Steirischen Herbst und – regelmäßig in ein-, meistens zweiwöchigem Abstand auf den Fuß folgend – Donaueschingen, es gibt auch diverse Arondierungen: von Dresden, Berlin, Straßburg, Paris, Warschau bis zu Mürzzuschlag, Schwaz, Weingarten und, und, und...
Der Tross der Liebhaber und Fachleute setzt sich in Bewegung, beim Blick über das Publikum sind Déjà-vu-Erlebnisse im Eintrittspreis inbegriffen. Kaum etwas ist gegen die so sich bildende Neue Heimat einzuwenden. Freilich kommt es bei einigen Besuchern zu Blind-Buchungen. Man verabschiedet sich mit den Worten: „Also, bis zum nächsten Jahr, wieder hier!“ Und wenn die diversen Tage für Neue Musik die im Tourismus-Betrieb inzwischen übliche Methode der Treueauszeichnung (wie bei der Ehe für 10-, 25- oder gar 50jährige Regelmäßigkeit des Besuchs) einführen würden, dann könnten sie wohl stolze Resultate vorweisen. Doch derartig eiserne Treue darf seitens der Betreiber nicht zu Nachlässigkeiten, gar zu einem Absenken des innovativen Impetus führen. Denn der wird mitgebucht.
Was also tun das Steirische Musikprotokoll oder die Donaueschinger Musiktage, um hautnah am Puls der Zeit zu bleiben? Ein Blick über die Programme soll Aufschluß geben. Bei beiden Festivals ist es ja in den Neunzigern zu einer organisatorischen Wachablösung gekommen. In Graz übernahm Christian Scheib das Ruder von Peter Oswald – nach einer etwas unglücklich verlaufenen Zwischenepisode mit Solf Schäfer -, in Donaueschingen trat Armin Köhler die Nachfolge von Josef Häusler an. In beiden Fällen ist die Zeit des Einlebens vorbei, eigene Konturen wurden gesetzt, sie werden ausgebaut. Mit der Verjüngung der Organisatoren ging eine Verjüngung der Ästhetik einher. Das ist notwendig, denn die bloße Abwicklung eines hergebrachten Konzepts ohne neue Profilierung können sich beide Festivals nicht leisten.
Zweifelsohne ist Donaueschingen das konservativere, trotz der neu eingeführten und beharrlich fortgesetzten Akzente durch diverse Klangskulpturen, die freilich ihr Leben eher am Rande fristen und von den Besuchern oft noch schnell auf einem Nachmittagsspaziergang vor dem krönenden Schlußkonzert abgeholt werden. Bei Donaueschingen, das hat sich inzwischen relativ manifestiert, spricht man über Kompositionen und deren Urheber, in Graz neigt man eher dazu, über das Konzept und über Trends nachzudenken – auch ästhetisch noch ungenügende Ansätze können dazu fruchtbar beitragen.
So notiert Christian Scheib zum diesjährigen Musikprotokoll: „Den Wert der Genauigkeit innerhalb der Vielfalt zu kultivieren, ist – neben der traditionellen Konzentration auf das jeweils einzelne Werk – Ziel der Programmzusammenstellungen des Musikprotokolls. Der aktuelle Tausendsassa des experimentellen Undergrounds, Jim O´Rourke aus Chicago, mit seinem Output von Lärm über Kitsch zu Elektroakustik, ist Gast des heurigen Musikprotokolls, um an drei neuen, für Graz entworfenen Werkprojekten mitzuarbeiten...Wenn die Programmkonstellation dieses Festivals einen Eigenwert in Relation zur Wertigkeit einzelner Werke oder Projekte hat, dann liegt er in dieser Forderung nach Genauigkeit von Produktion wie Wahrnehmung innerhalb der Vielfalt.“ Ein süffisanter Leser dieser Zeilen mag sich fragen, ob sich der Titel des parallel geschalteten Musiksymposions, das Schönberg-Zitat „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“, nicht auch hierauf beziehen könnte. Dennoch haben die letzten Musikprotokolle bewiesen, daß sie so etwas wie eine gleichsam strukturelle, dialektisch sich abfedernde Thematik durchaus zu errichten in der Lage sind. Da ist nicht die klare, mit einem Schlagwort umrissene Thematik, dennoch fühlt man sich in einen Konnex sich ergänzender und befruchtender ästhetischer Ansätze eingebunden. Ob es auch diesmal gelingt? Zweifel dürfen angesichts der recht kühnen Auswahl von Lachenmann über Hosokawa bis eben Jim O´Rourke oder Max Nagl erhoben werden. Vielleicht ist die Überraschung positiv. Oder es bleibt am Schluß die Einsicht eines fürs letzte Konzert angesetzten Stückes von Klaus Lang: „Die Ewigkeit ist eine Badehütte mit moosbewachsenem Schindeldach“.
Auch Armin Köhler war in Donaueschingen ursprünglich mit der Idee zu einer thematischen Fokussierung angetreten. Nach Aufweichung des Konzepts von Beginn an wurde diese Idee wieder fallengelassen – in Deutschland scheint man sich mehr den Sachzwängen wie etwa der Schwierigkeit der Vergabe von thematisch ausgerichteten Kompositionsaufträgen (und deren termingerechter Einhaltung) zu beugen. Die alte Form, die schlicht darauf beruht, wichtige Komponisten einzuladen und uraufzuführen, hat sich mit der störrischen Kraft des Hergebrachten durchgesetzt. Dafür tritt Pädagogisches an ihre Seite. Einen Kinderworkshop soll es geben, einen weiteren zum Thema „Stimmungen und Intervall“. Online-Diskussionen ergänzen diese Ausrichtung ebenso wie die erstmalige Verleihung eines Förderpreises für Komposition (gestiftet vom Land Baden-Württemberg und der Kulturstiftung der Deutschen Bank).
Sonst gibt es, in dieser Totalität selbst in Donaueschingen überraschend, in den Konzerten so gut wie ausschließlich Uraufführungen (einzige Ausnahme ist Helmut Oehrings und Iter ter Schiphorsts „Requiem“ in Deutscher Erstaufführung). Die Namensliste aber verheißt Spannung: Ellen Fullman, Mathias Spahlinger, Qounghi Pagh-Paan, Christian Wolff, Mauricio Sotelo, Klaus Huber, Toshio Hosokawa, Arie Shapira, James Dillon, Maria de Alvear, Fredrik Zeller, Hanspeter Kyburz, Rolf Riehm und Wolfgang Rihm. Fast alles sind Namen, vieles junge, auf die man getrost wetten könnte.
Ob aber in der Kunst mehr das Sichere (Donaueschingen) oder das Unsichere (Graz) das Gelingen, also den Einstieg in den Ausblick, fördert, müssen die Festivals immer aufs Neue erweisen. Immer noch handelt es sich um Schwankungen am Rande – trotz der vielen Déjà-vus unter den treuen Besuchern.