Der Bayerische Wald hat zwei Gesichter: Da ist einerseits eine wunderbare, weil nicht immer liebliche Landschaft, mit ihrer manchmal etwas kargen, aber stets einladenden Urtümlichkeit. Auf der anderen Seite muss man in den touristisch besser erschlossenen Gebieten aber auch viel Pseudo-Gemütlichkeit über sich ergehen lassen, Zwangsbeschallung mit entsprechend „volkstümlichen“ Weisen inklusive. Diese einmalige Gegend hat Besseres verdient, meinen mit einiger Berechtigung die Macher des Musikfestivals „Kulturwald“, das Anfang September zum zweiten Mal mit einiger Resonanz in den Wald schallte.
Einer dieser Macher ist Thomas E. Bauer, ein sympathischer Workaholik in Sachen Musik, der seine ausgezeichneten Kontakte nutzt, um Künstler in eine Region zu locken, die diese sonst kaum im Tourneeplan hätten. In der Hauptsache aber ist er ein fantastischer Sänger, wovon noch die Rede sein wird.
Zu seinem Ausgangspunkt und Hauptspielort, dem wunderbar gelegenen Wild-Berghof Buchet bei Deggendorf kehrte das Festival nach einer Woche mit Konzerten in Windberg, Metten, Finsterau und Viechtach am Wochenende zurück. Hochkarätiges hatte man bis dahin vor allem vokal zu hören bekommen: Die großartige Altistin Marianne Beate Kielland etwa in Bachs Kantate „Vergnügte Ruh…“ oder die Max Reger Vereinigung mit einer überraschenden Version des „Deutschen Requiems“ von Brahms: Wo die Klavierbegleitung bei aller Souveränität Uta Hielschers und Siegfried Mausers das fehlende Orchester nicht vergessen machen konnte, lieferte der nur 16-köpfige Chor eine gerade aus der Reduktion heraus erstaunlich intensive Deutung des Werkes.
Triumphal verlief die einmalige Wiederbegegnung mit der Singer-Pur-Besetzung der Jahre 1994 bis ’98. Thomas Bauer, Mitbegründer des legendären Vokalsextetts, hatte mit Caroline und Christian Wegmann zwei weitere Ehemalige für das Konzert gewinnen können. Vor allem da, wo es in den modernen Nummern eines Cage, Ligeti oder Patterson auf die individuelle Gestaltungskraft eine jeden Einzelnen ankommt, zeigte sich das Ensemble in bestechender Form, von der besonderen Aura dieses „Revivals“ hör- und sichtbar angestachelt. Schon der erste Teil dieses Abends im Festsaal des Klosters Metten war mit Jos van Immerseels subtilen Schubert-Erkundungen am Hammerflügel sensationell verlaufen. Sein Gespür für den „Volkston“, etwa in Schuberts Deutschen Tänzen, verband sich ideal mit den Intentionen des Festivals. Thomas Bauer setzte mit den Heine-Vertonungen aus dem „Schwanengesang“ einen schaurigen, die Grenzen des mit sängerischen Mitteln Darstellbaren streifenden Kontrapunkt.
Dennoch meinte man erst mit der Rückkehr nach Buchet in der eigentlichen Heimat des „Kulturwalds“ angekommen zu sein. Auch wenn der Stadel trotz akustischer und wärmedämmender Maßnahmen noch nicht strengste Kriterien erfüllt, schienen die Künstler gerade hier ganz zu sich zu kommen. Eine Programmfolge wie die folgende hört man jedenfalls nicht alle Tage: Salome Kammer eröffnete den denkwürdigen Abend mit ihrem Programm zum Thema „Brecht und die Frauen“ und lieferte zusammen mit Siegfried Mauser am Klavier nichts Geringeres als das Ideal einer Brecht/Weill-Interpretation: leichtfüßig ihre absolut gleichwertigen Möglichkeiten als Sängerin und Schauspielerin in unterschiedlicher Gewichtung einsetzend, Informatives und Lyrisches ganz selbstverständlich einstreuend – ein seltener Genuss.
Es folgte Moritz Eggerts ebenso hintersinnige wie publikumswirksame „Hämmerklavier“-Performance, die in ihrer Mischung aus Avantgarde-Ironisierung und Neudefinition der Pianistenrolle Insider wie Gelegenheitshörer mitzureißen vermochte. Im Nachtkonzert schließlich einmal mehr Thomas Bauer: Wie er den Spuren zum Trotz, die das Organisations- und Sangespensum auf seinen Stimmbändern hinterlassen hatte, hier zu vorgerückter Stunde Schumanns Eichendorff-Liederkreis und die „Dichterliebe“ mit seiner traumwandlerisch mitgestaltenden Partnerin Uta Hielscher auf den Punkt zu bringen vermochte, war ein beglückendes Erlebnis.
Programmatisch versucht das Festival nicht, sich krampfhaft an ein Motto zu halten. Freilich durchzog das Thema Wald und Natur allgemein die Tage auf ganz selbstverständliche Weise, woran auch die vokalen Schwerpunkte ihren Anteil hatten. In der Untermischung einiger Programme mit Volksmusikalischem suchte man den Rückbezug zur Gegend, mit dem Wirtshaus als Begegnungsort von Bartóks Violinduos (fulminant auf zwei Bratschen: Radzvan Popovici und Christan Nas) und authentischer Volksmusik (D’Waidler Musi) sowie einem zünftigen Schafkopfturnier die Nähe zu den „Ureinwohnern“.
Die kamen dann auch in Strömen, als es daran ging, eine Operettenausgrabung zu beklatschen, die mit bescheidenen, aber zündenden Mitteln über die Bretter des Bucheter Stadels ging. Siegfried Mauser arbeitete sich tapfer durch den Klavierauszug eines Werkes, das Toni Mauser jun. Anfang der 1950er-Jahre auf einen Text von Toni Mauser sen. komponiert hatte. Der als Sprecher aus dem Off famos ironisierende Georg Blüml hatte das bisher nur im Mauser’schen Familienkreis teilaufgeführte Opus namens „Felizitas, die Zigeunerprinzessin“ in eine erstaunlich gut funktionierende Operettenparodie umgebaut, die vier Darsteller in Doppelrollen aufs köstlichste beschäftigte und das Publikum nicht minder amüsierte.
Ob die Mischung sich auf Dauer durchsetzt, wird wohl vor allem davon abhängen, wie es gelingt, einerseits die Stadtmenschen mit Programmen und Interpreten in den Wald zu locken, die sie in dieser Konstellation sonst nicht zu hören bekommen, und andererseits jene Einheimische und Urlauber anzusprechen, die sich nach Musik jenseits des Musikantenstadls sehnen. Der Kulturwald scheint auf einem guten Weg zu sein, vom 3. bis 13. September 2010 läuft die dritte Ausgabe.