Benjamin Britten wird 2013 zwar 100 Jahre alt, doch das Britten-Jubiläum fällt im Jahr der großen 200-Jährigen – Wagner und Verdi – hierzulande eher mager aus. In Großbritannien dagegen feiert man ihn, wenn auch auf typisch britische Weise, nämlich mit traditionsgewissem Unterstatement. Das englische Britten-Zentrum befindet sich in Aldeburgh, wo der Meister lebte und bereits 1948 ein Musikfestival gründete, das bis heute stattfindet. Diesmal steht er natürlich selbst im Zentrum der Veranstaltungen.
Die Küste der englischen Grafschaft Suffolk ist rau. Grober Kies bedeckt die Strände, an denen das unbarmherzige Meer immer wieder gierig zerrt, niedrige Häuschen ducken sich im Wind. Hier wurde Britten 1913 geboren und hierher kehrte er nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Schlangengrube des Londoner Musiklebens für den Rest seines Lebens zurück.
Das Städtchen in dem ansonsten eher dünn besiedelten Landstrich ist heute ganz und gar geprägt durch Britten. Eine Art britisches Bayreuth. Das ganze Jahr über werden Konzerte und Education-Programme veranstaltet. Vor allem aber zur Festspielzeit tummeln sich zahlreiche Besucher in dem nun pittoresk herausgeputzten Ort, Boutiquen und Kunstgewerbelädchen reihen sich in der Hauptstraße des eins-tigen Fischerdorfs.
„Britten lives here“ lautet das Motto des Jubiläumsjahrs. Tatsächlich kann man sich der Präsenz Brittens hier kaum entziehen, es sind nicht nur die Stätten seines Lebens und Wirkens, die das Gefühl vermitteln, er sei noch anwesend. Es ist vielmehr sein Werk, oder besser gesagt, der Geist seines Werks, der hier spürbar weht. Auch deshalb, weil sein Werk eben nicht zufällig in dieser Landschaft, in dieser so spröden Umgebung entstanden ist, sondern ganz konkret dort verwurzelt ist. Wie seine erste und vielleicht dramatischste Oper „Peter Grimes“, deren Handlung in Aldeburgh spielt. Allerdings in jener Zeit, als das Städtchen noch nicht wie heute ein gepflegter Urlaubsort war, sondern ein bitterarmes Fischerdorf mit verhärmten, gewaltbereiten Bewohnern. Daher ist das Festivalmotto mit den bekennenden Worten des tragischen Titelhelden: „I am native … rooted here“ durchaus im doppelten Sinne programmatisch zu verstehen.
Hintersinnige Annäherung an „Peter Grimes“
So drängte es sich geradezu auf, „Peter Grimes“ als Destillat des Authentischen ins Zentrum des Jubiläums-programms zu stellen. Zur Eröffnung des Festivals bekräftigte eine konzertante „Peter Grimes“-Aufführung in der Snape Maltings-Konzerthalle – dem Zentrum des musikalischen Geschehens – sowohl die Ambition als auch das Motto des Festivals: eine exemplarische Aufführung, bis in die kleinste Rolle britisch besetzt und mit jeder Silbe verstanden und beglaubigt vom überwiegend heimischen Publikum. Zehn Tage später wurde das Werk in der gleichen Sänger-Besetzung mit vom Band zugespieltem Orchester am Strand von Aldeburgh unter freiem Himmel aufgeführt. Die wohl hintersinnigste Annäherung an „Peter Grimes“ hat aber wohl die Theatergruppe „Punchdrunk“ ausgeklügelt: „The Borough“ – was übersetzt so etwas wie Kiez heißt – ist das Theaterexperiment übertitelt, das eine „theatralische Reise auf den Spuren von Peter Grimes“ sein will und ein aberwitziger Parcours quer durch die Stadt ist, den man ganz allein absolvieren muss.
Am Treffpunkt, einem morschen Aussichtsturm am Strand, bekommt man einen Kopfhörer nebst Merkblatt ausgehändigt und soll nach der Lektüre in einem Liegestuhl abwarten, bis man abgeholt wird. Tatsächlich kommt dann niemand, aber die Tonspur im Kopfhörer suggeriert es, denn plötzlich hört man knirschende Schritte im Kies und eine männliche Stimme fordert einen auf, jetzt aufzustehen und mitzukommen. Der raunend langsam sprechende Mann im Ohr führt bedächtig und mit die Spannung steigerndem Raunen eine Stunde lang an manch unheimlichen Ort.
Denn es ist ja eben kein Spaziergang auf Brittens Spuren, sondern auf denen seines zwielichtigen Opernhelden Peter Grimes. Dieser war bekanntlich ein schweigsamer Einzelgänger und bestritt sein kärgliches Auskommen mit der Fischerei. So steht man alsbald vor einer Hütte am Meer mit einer wackeligen blauen Tür.
Auf den Spuren eines zwielichtigen Helden
Der Mann im Ohr fordert einen auf, diese Tür zu öffnen. Es ist ein bisschen peinlich, einfach so eine fremde Tür zu öffnen, aber man tut es schließlich doch – und findet sich wieder in einem elenden Verschlag mit Netzen, Ölzeug, einem Plastikstuhl und einer dreckigen Pritsche. Es ist niemand da, aber hier wohnt wohl Peter Grimes, der gerade auf See ist. Brittens orchestrale „Grimes“-Musik kriecht ins Ohr, ein Frösteln stellt sich ein. Plötzlich aber – und das kommt nicht über den Kopfhörer – poltert sehr real jemand herein: ein stockbetrunkener Fischer in Krawallstimmung, gefährlich nahe. Ist das nun ein Schauspieler oder ein echter Trunkenbold? Man weiß es nicht so genau. Nichts wie raus aus der Hütte. „Forget him …“, raunt der Mann im Ohr, die „Grimes“-Musik beschreibt die Kühle des heraufziehenden Morgenlichts.
Später steigt man die steilen Treppen zu Ellen Orfords karger Behausung hoch und muss sich schnell im Schrank verstecken, weil sie nachhause kommt. So geht es immer weiter, und befeuert von der Tonspur fühlt man sich bald so, als würde man durch seinen eigenen Hitchcock-Film laufen. Am Ende des Spaziergangs – der, wie die Engländer sagen würden, ziemlich „spooky“ ist – findet man sich in einem öden Sumpfgebiet wieder, wo sich das Geschehen noch einmal dramatisch zuspitzt und man wiederum sehr handfest von finsteren Dorfbewohnern bedroht wird.
Bestürzend real wirken die Szenen, in die man unmittelbar verwickelt wird, auch deshalb, weil alle Darsteller ganz heutig aussehen. Sie laufen durch die Straßen, stehen in der Kneipe am Tresen und werden plötzlich Teil des Spiels. Realität, Theaterspiel und authentisches Umfeld verschwimmen bei dieser theatralischen Reise auf irritierende Weise. Man könnte einwenden, dass das eine höchst manipulative Form von Überrumpelungstheater ist, eine unzulässige Überbietung des Artifiziellen durch das Reale, aber das Ganze ist in seiner Erfahrungswucht doch verblüffend feinsinnig gemacht und geht unmittelbar unter die Haut.
Avantgarde-Spezialist und Festspielchef
Derart experimentelle Formate sind in Aldeburgh ansonsten nicht die Regel. Seit 2009 verantwortet der französische Pianist Pierre Laurent Aimard die künstlerische Leitung des traditionsreichen Festivals. Der ausgewiesene Avantgarde-Spezialist versteht sich in seiner Rolle als Festspielchef bewusst nicht als radikaler Erneuerer, sondern baut auf das, was er vorfand: „Dieses Festival hatte eine sehr klare und starke Identität und eine starke Geschichte, und das respektiere ich. Aber meine Aufgabe war selbstverständlich schon, frischen Wind hereinzubringen.“
Aimard geht es augenscheinlich nicht darum, dem Festival einen starken eigenen Stempel aufzudrücken. Seine Aufgabe begreift er vielmehr darin, Brittens durchaus offenen und doch fest mit der Tradition verbundenen Geist in die Zukunft weiter fortzuschreiben. Brittens Position in der Musikgeschichte verortet Aimard sehr eindeutig: „Er gehört nicht zu den Leuten, die Türen zur Zukunft geöffnet haben. Er war ein Anti-Avantgardist.“
Aimard setzt dennoch auf Zeitgenössisches, nicht weniger als sechs Uraufführungen wurden allein in diesem Jahrgang in Auftrag gegeben. Doch auch bei den Zeitgenossen bevorzugt das Festival Tonsetzer, die sich – wie Britten – auf die Tradition stützen. Wie etwa Judith Weir, die mit „I give you the end of a golden string“ ein Stück für Streichorchester komponiert hat, das auf verblüffende Weise an barocke Formen anzuspielen scheint und wie ein spätes, surreales Echo auf Vivaldi klingt.
Oder auch Jonathan Harvey, dessen narkotisierend klangschöne und nur sanft aufgerauten Chorsätze – famos gesungen vom exquisiten lettischen Rundfunkchor – sich in der trutzigen Kirche von Blythburgh nahtlos in das musikalische Umfeld der archaischen Motetten von Thomas Tallis und William Byrd einfügen. Auch die Gegen-überstellung von Alter und Neuer Musik ist nicht Aimards Erfindung, sondern schon immer das Grundprinzip des Festivals gewesen.
Aldeburgh war und ist kein Labor für die Zukunft. Das Neue gibt sich hier nicht radikal, sondern eher sanft. Pierre Laurent Aimard glaubt, dass es hieße, den Gründungsvater zu verleugnen, wenn man es anders machte. Denn Aldeburgh als verlängerter Arm von Brittens Haltung ist auch ein Stück musikalische Identität Großbritanniens: „Es ist nicht nur seine Musik selbst, die ihn für England so wichtig macht. Es sind auch die Ausbildungsprogramme. Vor allem aber ist Britten ein Symbol. Und das ist für ein Land wichtig, Symbole zu haben und Referenzen.“