Wie lang dauern natürliche Dauern? Erste Antwort: Einhundertvierzig Minuten. Zumindest brauchte Udo Falkner so lang, um Stockhausens „Natürliche Dauern“ auszubreiten. Ein Klavierzyklus in 24 Stationen, 3. Stunde, Ora Terza des unvollendet gebliebenen Zyklus „Klang“.
Ein von salomonischer Weisheit erfülltes Spätwerk, das unter Falkners Händen zur Enthüllung eines Monuments geriet. Immer wieder wurde der Pianist am Ende herausgerufen, hatte eine dankbare Zuhörerschaft doch erfahren, was Kunst intendiert: Rücknahme aller Entfremdung.Dabei waren die Bedingungen für solche Kunstentfaltung alles andere als optimal. Ein Konzertsaal im Schuhkarton-XXL-Format hatte nicht erst Falkner mit einem gehörigen Darstellungsproblem konfrontiert. Als Midori einmal an gleicher Stelle das Adagio aus Brahms’ d-Moll Sonate intonierte, war sie der Versuchung erlegen, zu drücken, um auch ganz hinten verstanden zu werden. Vergleichbar die Lage im Fall der „Natürlichen Dauern“, einer ganz aus Klang und Zeit gewirkten Musik mit extrem geweiteten Flächen, repetierenden, am Ende stets ausschwingenden Tönen, deren Dauer Stockhausen an „ruhigen Atemdauern“ orientiert wissen wollte. Die Humanität eines Komponierens, in dem Klang und Zeit Chiffren für das Leben, für den Menschen selber sind, gebunden an den Atem.
Durchweg ist der Interpret darin gehalten, Töne, Fermaten, Cluster „ganz“ oder „beinahe“ ausklingen zu lassen, wobei Letzteres bereits einen kompositorischen Kompromiss markiert. Ursprünglich sollte „jeder einzelne Ton ganz“ ausklingen. „Es ergab sich dann“, so Stockhausen korrigierend, „dass der Pianist des Öfteren noch Klang wahrnahm, während man im Publikum keinen Nachklang mehr hörte. Das führte zu einer Änderung der Anweisung.“ Zugleich aber auch zur Frage: Wieviel ist „nahezu“? Wie lang ist lang? Oder, paradoxiefrei formuliert: Wie bemisst sich die Dauer natürlicher Dauern, wenn diese abhängig sind von der Entfernung? Wer misst ab – der Pianist am Instrument ganz vorn oder das Publikum im Schuhkarton hinten links? (Anmerkung: Wie im Brettspiel Zwickmühlen bekanntlich nicht gelöst, sondern tunlichst vermieden werden, bräuchte auch das Konzertleben Räume, die erst gar nicht in derartige Verlegenheiten führen.)
Die akustische Kalamität eines nicht für, sondern auch für Konzerte errichteten, so genannten „multifunktionalen“ Veranstaltungssaals im Unterbau des Düsseldorfer Kunstpalastes bewog Falkner dazu, das Aus- und Einschwingen mit deutlichem Überlappen zu zeichnen, um den hinteren Rängen keine Löcher in den „Natürlichen Dauern“ aufreißen zu lassen. Das Midori-Problem. Trotz der majestätischen Ruhe, mit der Falkner das Hörereignis dieser Geist-Musik Gestalt werden ließ, wurde doch deutlich, welche interpretatorischen Reserven in diesem „nahezu“ noch liegen.
Pianist Udo Falkner, der seine Fähigkeiten zu nuanciertestem Spiel wie seinen Hang zu radikal-künstlerischem Purismus in der Vergangenheit in großen monothematischen Klavierabenden (Wolfgang Rihm, Olivier Messiaen, Günther Becker und Schüler) offengelegt hat – mit seinem grandiosen Stockhausen-Recital hat Falkner einen weiteren Schritt getan. Einen, in dem Vertiefen und Sich-Verständlichmachen kein unaufhebbarer Gegensatz ist. Auch dies ein Ergebnis von einhundertvierzig kurzweiligen Glücks-Minuten, angefüllt, angereichert mit „Natürlichen Dauern“ eines Kölner Meisters, zur Ausführung gebracht von seinem unauffällig wirksamen Düsseldorfer Schüler.