Muss man Beethoven-Symphonien in einem Konzertsaal mit 2.000 Plätzen spielen? Natürlich nicht. In einer Untersuchung von Stefan Weinzierl aus dem Jahr 2002 wurden die Konzerträume Beethovens vermessen und verglichen. In einem Saal wie der Berliner Philharmonie müsste demnach ein Orchester mit 1.000 Musikern besetzt sein, um ein vergleichbares Klangvolumen hervorzubringen wie die Lobkowitzsche Kapelle mit ihrer Standardbesetzung von 35 Musikern bei der Aufführung der 3. Symphonie im Wiener Palais Lobkowitz.
Und das Klangvolumen ist nicht alles, was uns im modernen Konzertsaal verloren geht. Die große räumliche Entfernung zwischen Musiker und Publikum lässt schon lange nicht mehr die Nähe und physische Einbeziehung des Hörers zu wie Anfang des 19. Jahrhunderts noch üblich.
Das ist Geschichte. Werke von Strauss, Mahler und Bruckner etwa, ein gestiegenes bürgerliches Repräsentationsbedürfnis und nicht zuletzt kommerzielle Notwendigkeiten ließen sowohl Orchesterapparate als auch Konzertsäle wachsen. Bis heute: Weltweit entstanden in den vergangenen Jahrzehnten große Konzerthäuser unter Berücksichtigung modernster akustischer Erkenntnisse. Doch die Weltwirtschaftskrise holt die Konzerthausbauer ein. Bis vor kurzem schien es festzustehen: In Bonn wird bald die vierte Beethovenhalle in der Geschichte der Stadt entstehen, auf dem Areal der dritten Beethovenhalle am Rhein, einem Symbol der Bonner Republik aus dem Jahr 1959. Die Marke Beethoven sollte im Zusammenklang von Beethovenfestival Bonn und dem Orchester der Beethovenhalle Bonn national und international neu in den Wettbewerb ums internationale Festivalpublikum geschickt werden.
Seit Ende April sind diese Pläne Makulatur. Bonn verabschiedet sich von Exzellenz und Leuchtturm. Die Stadt schlittert mit einer Schuldenlast von 1,23 Milliarden Euro an einem Haushaltssicherungskonzept entlang und gesteigerte laufende Kosten, die – zusätzlich zu den Aufwendungen für den Abriss der alten Halle – das neue Konzerthaus erforderlich gemacht hätten, sind nicht mehr drin. Und dies, obwohl der Bund 39 Millionen zu einer Stiftung zugeschossen hätte, und die Bauherrin gar nicht die Stadt gewesen wäre, sondern die DAX-Unternehmen Postbank, Deutsche Post und Telekom.
Und Bonn steht nicht allein: In Köln entschieden sich die Bürger gegen den Neubau des Schauspielhauses, in Bochum liegt das seit über zehn Jahren projektierte Konzerthaus auf Eis, der von Christoph Poppen angeregte Konzerthausbau in Saarbrücken wird nicht realisiert und München setzt derzeit neben seinen Opernhäusern und Orchestern auch auf Jazz und die freie Musikszene – das bleibt kostengünstiger als der dritte Konzertsaal der Stadt, den vor allem Mariss Jansons als Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks einfordert.
Die Elbphilharmonie Hamburg ist inzwischen zu einem Leuchtturmprojekt mit negativem Vorzeichen geworden. Ein Zurück gibt es aber nicht mehr, am 28. und 29. Mai lädt die Elbphilharmonie die Hamburger Bürger ein, das Richtfest ihres neuen Wahrzeichens zu feiern. Von den rund 100 Veranstaltungen pro Jahr, die die Elbphilharmonie heute schon bestreitet, finden viele in der Laeiszhalle statt, sehr zum Missfallen anderer Veranstalter, die dadurch auf die Straße gesetzt werden.
Zurück nach Bonn: Die Stadt Bonn will jetzt ein Gesamtkonzept für den Kulturstandort Bonn unter Einbeziehung der Region entwickeln, damit auf dessen Basis die beteiligten Investoren über eine mögliche zukünftige Förderung entscheiden können. In der Zwischenzeit suchen die Stadt Bonn und die Sponsoren nach alternativen Förderprojekten in den Feldern Jugend, Bildung und Soziales.
FestivaI-Intendantin llona Schmiel hört das nicht gern. Sie will wissen, wie die Lösung für die Hauptspielstätte Beethovenhalle aussieht. Denn ihrer Meinung nach genügt die Akustik sowie die Modernität der Halle nicht mehr den heutigen Erfordernissen, bestimmte Spitzenkünstler seien nur noch schwer nach Bonn zu holen. Kurt Masur – der Schirmherr des Konzerthallenprojektes – sagte gar, dass er in der alten Halle eine 9. Symphonie nicht mehr spielen möchte. Der Renovierungsbedarf für die alte Beethovenhalle wird auf Minimum 20 Millionen Euro geschätzt, die Stadt ist also durch ihre Absage in letzter Minute nicht wirklich aus der Zwickmühle herausgekommen.
Egal ob neues oder altes Konzerthaus, das eigentliche Wahrzeichen der Stadt Bonn ist das Beethovenfest selbst. Seine tatsächliche Substanz steckt aber nicht allein in zugkräftigen Dirigentennamen und renommierten Orchestern, sondern auch in der Vielzahl hochkarätiger Kammermusikkonzerte an zentralen Orten in der Stadt, in einem exzellenten Educationprogramm, im stetigen Ausbau der Moderne, in Einladungen an außergewöhnliche Orchester wie das Venezolanische Jugendorchester und seinen Dirigenten Gustavo Dudamel, in ambitionierten Projekten wie dem Beethovenzyklus der Deutschen Kammerphilharmonie oder wie dieses Jahr im Gastspiel eines brasilianischen Jugendorchesters. Und nicht zuletzt: in der Identifikation der Bonner Bürger mit „ihrem“ Festival.
Um auf den anfänglich beschriebenen Gegensatz zwischen Berliner Philharmonie und dem Palais Lobkowitz zurückzukommen: Klassische Musik ist eben genau nicht Massenabfertigung in der großen Konzertarena – im Gegenteil, die Aufgabe muss sein, Begegnungen und Kunsterlebnisse zu schaffen – und die brauchen nicht notwendigerweise Stararchitektur. Das beweisen Festivals wie Lockenhaus, Verbier, Gstaad und Aldeburgh, oder traditionsreiche Konzertsäle in vielen anderen Städten.
In Hamburg dagegen wurde noch nie so ernsthaft über Musik und ihre Vermittlung von Kind an gesprochen wie anlässlich der Elbphilharmonie, was fraglos zur Entwicklung Hamburgs zur lebendigen Musikmetropole beiträgt. Dieser kulturpolitische Effekt bleibt auch Bonn und seiner Debatte um die Beethovenhalle zu wünschen.