Der Lohengrin ist Richard Wagners traurigster Held. Die Fallhöhe seines Scheiterns wirkt noch viel größer als die des Tristan oder des Siegfried, da der Lohengrin doch mit so immensem utopischen Überschuss auftritt – dieser Mann des märchenhaften Wunders, der so gern der menschlichen Liebe teilhaftig werden möchte und doch erleben muss, wie unvereinbar sein schöner Schein mit dem wahren Leben einer real existierenden Beziehungskiste ist.
Zieht sein Schwan den silberblauen Ritter anfangs in zartesten A-Dur-Streicherzauber gehüllt aus „Glanz und Wonne“ vom heiligen Gral in die kriegeri-sche Welt von Brabant, wird der messianische Streiter für das Gute alsbald entzaubert. Folgerichtig ist es da, dass sich Richard Jones in seiner Münchner Neudeutung an einer „Meditation über das Scheitern“ versucht, um damit der Trias von bedeutungsschweren Befragungen des romantischen Märchens nach Stefan Herheims Berliner Annäherung via Puppenspiel und vor Hans Neuenfels‘ Bayreuther Exegese im kommenden Jahr eine britisch freche und freie Version der Geschichte hinzuzufügen.
Elsas Traum vom strahlenden Rittersmann erfährt in München also ihre realistisch kleinbürgerliche Konkretisierung: Die beiden bauen sich ein Eigenheim. Damit hatte Elsa schon begonnen, als sie im 1. Aufzug ihren Erlöser noch herbeisehnt; da setzt sie – selbst ist die Frau – beherzt Stein auf Stein, bis ihr Strahlemann dann tatsächlich erscheint. Unvermittelt tritt er von der Seitenbühne auf, in blauem T-Shirt gewandet wirkt er nur eher wie ein gut gebauter Bühnenarbeiter, der sich zufällig auf die Szene verirrt hat, denn ein Gottgesandter, der seine hehre Berufung darin entdeckt, Elsas Unschuld zu beweisen.
Was denn das Wunderbare, das Zauberhafte und Märchengleiche an diesem Ritter des Grals sein könnte, versucht der Regisseur auch nicht ansatzweise zu klären: Die Desillusionierung, Entzauberung und Dekonstruktion des romantischen Faszinosums namens Lohengrin scheint für den kritischen englischen Regisseur, der selbst der unzweifelhaften musikalischen Magie des betörenden, jugend-frischen und schwelgerischen Opus gegenüber immun zu sein scheint, wohl ohne Alternative.
Die Verweigerungshaltung der Inszenierung vollzieht Kent Nagano mit seinem festspielwürdig disponierten Orchester konsequent nach: kein agogisches Verweile-doch zur Feier der berückend schönen Stellen gönnt er seinen Musikern und seinem ihn dennoch bejubelnden Münchner Festspielpublikum; forsch und immer geradeaus dirigiert dieser eigentlich so feinfühlige Maestro, lässt es blechbläserstark krachen, diffe-renziert aber gerade im Dynamischen auch sehr flexibel, bedacht und detailverliebt.
Die Romantik treibt er seinem Wagner indes gerade so vollkommen aus wie die Herren Ultz (Ausstattung) und Jones (Regie) auf der Bühne. Man gewinnt den Eindruck, Nagano dirigiere hier mitunter gehobene Theatermusik, natürlich stets luxuriös ausgearbeitet und penibel intonationsrein in den irisierenden Violinlinien des Vorspiels. Das klingt effektvoll, edel und energisch – berührt indes nur selten: so immerhin in der an die Hörschwelle zurückgenommenen Gralserzählung Lohengrins, in der sich ein seine Pianissimi erzwingender Jonas Kaufmann und ein sein Orchester maximal drosselnder Dirigent auf Ohrenhöhe begegnen.
Blendet der Regisseur den Mythos dieser deutschen Messias-Figur, die man ja durchaus mit kritischen Untertönen befragen könnte, fast vollständig aus, rückt er eine Figur in den Mittelpunkt, die sonst fast immer nur die blass eindimensionale schöne Schwärmerin vom Dienst ist: Elsa von Brabant.
Eigentlich könnte das Stück bei Richard Jones „Elsa“ heißen. Denn in der schlichtweg exemplarischen sängerdarstellerischen Verkörperung durch Anja Harteros gewinnt das artige Fräuleinwunder an enormem Format. Sie weitet die Figur von der träumerisch entrückten Jungfrau, die stets nur zarte Engelstöne singt, zu einer ihrer selbst immer gewisser werdenden jungen Frau, die ein klares Ziel verfolgt: mit ihrem Traummann ein anderes, neues Leben zu beginnen, eines der Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit und des Vertrauens, das sich von dem Kriegsgeschrei und den Intrigenspielen ihrer Umwelt positiv, wenn nicht gar utopisch abgebt.
Den schon bei Wagner als eher passiven Gutmenschen gezeichneten Helden Lohengrin macht diese Elsa indes noch schwächer. Man glaubt ihr jedes Wort; und sie muss das Frageverbot, das Lohengrins Identität verbergen soll, unbedingt brechen. Denn wie könnte diese emanzipiert selbstsichere, und dabei warm und ehrlich fühlende Frau ihren Mann ohne Kenntnis seiner Herkunft einfach nur anbeten?
In der großen Brautgemachszene des 3. Aufzuges erreicht Jones eine psychologische Dichte, die seiner sonst zu beliebigen Personenführung (in der Chor-Regie leistet er sich fast einen Totalausfall) doch noch ein Glanzlicht aufsetzt. Wenigstens ihr soll der Geliebte doch „Nam‘ und Art“ enthüllen, der blöden Welt da draußen könne er sein Geheimnis ja weiter vorenthalten. Als Lohengrin dann aber ja gerade doch öffentlich seine Identität preisgibt, will Elsa ihn im letzten Moment davon abhalten: Sie hält ihm ihre Hand vor den Mund. Zu spät jedoch. Der Gralsritter nennt seinen Namen, und er muss nun in sein Märchenland entweichen.
Dieser konzeptionell diskutable und konsequente, handwerklich aber leichtgewichtige und es sich – zumal in der Negierung einer Interpretation der Titelfigur – zu leicht machende Musiktheater-Abend könnte langweilig sein, wäre da nicht eine wagnerwonnige Sängerschar, die in dieser Qualität und Stimmigkeit derzeit ihresgleichen sucht. Phänomenal ist Anja Harteros als Elsa. Sie erfüllt Wagners Anforderungen an einen jugendlich-dramatische Sopran in schlichtweg idealer Weise. Innig beseelt einerseits, sinnlich jubelnd andererseits vermag sie vokal höchst eindrucksvoll zu vermitteln, wie hier ein Mädchen heranreift zur wissenden Frau, die ihren Lebensplan mit Klugheit, Eifer und Empathie zu verwirklichen sucht. Ein bezwingendes Rollenportrait der Debütantin, die sich mit dieser perfekten Gestaltung der heiklen Partie für größere Aufgaben empfiehlt, Senta, Sieglinde oder Elisabeth sind in Reichweite.
Nicht minder beeindruckt ist ihr Erwählter, den der ebenfalls debütierende Jonas Kaufmann mit virilem, dabei doch sensiblem Trompetenton adelt und dabei eine sympathische, indes szenisch viel zu private Figur abgibt. Bei allem stupend heldischen Glanz ist das Manko von Kaufmanns Facherweiterung nicht zu überhören. Denn jenseits der kraftvollen Höhe im Forte wirkt seine Mezza voce-Fähigkeit begrenzt. Das Piano klingt spröde, hauchig und rau. Ein bedauerliches Phänomen, das nachdenklich stimmt, gilt Kaufmann doch als die deutsche Tenorhoffnung schlechthin. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie er sich bis zu seinem Bayreuth-Debüt in der Rolle des Schwanenritters entwickeln wird.
Wagner-Weltklasse bieten auch die Gegenspieler des hohen Paares: Konkurrenzlos der Telramund des Wolfgang Koch, der kulturvier-te Kantilene und markante Bariton-Eloquenz ganz ohne überartikulierende Konsonantenspuckerei verbindet. Und sein „fürchterliches Weib“, die Ortrud, ist, wie schon in Berlin, in Stimme und Gestalt von Michael Schuster eine die düsteren Farben ihrer Partie variabel ausleuchtende Mezzo-Hexe.
Mit dieser stimmstarken wie spielfreudigen Wagner-Garde der Spit-zenklasse wäre szenisch mehr drin gewesen. Die Aufregung von Münchens Opernfreaks über diese vergleichsweise harmlose, nicht ganz fertig ausgeführte Kopf-Regie wirkt dennoch übertrieben. Dieser Häusle-Bau-Lohengrin ist repertoire- und abonnementstauglicher als die aufgebrachte Festspielgemeinde uns glauben machen wollte.