Der Primus inter Pares genießt innerhalb einer grundsätzlich gleichberechtigten Gruppe eine besondere Wertschätzung. Nun bekommt die Szene der Neuen Musik eine Prima inter Pares: Rebecca Saunders, die schon allein deshalb eine Sonderstellung verdient hat, weil sie die erste Komponistin ist, die mit dem Ernst von Siemens Musikpreis den inoffiziellen Nobelpreis der Musik gewinnt – und das 45 Jahre nach dessen erster Stiftung im Jahr 1974.
Es ist verstörend: Die Musikavantgarde ist schon qua nomen innovativ, progressiv, konventionssprengend – außer im Hinblick auf die Gleichberechtigung. Ein bisschen ist es wie mit den 68er-Revolutionären, die zwar sämtliche gesellschaftlichen Normen anzählten, aber ungeniert dem Machismo frönten. Die männlichen Protagonisten der linken wie der avantgardistischen Bewegung sahen sich als intellektuelle wie künstlerische Häuptlinge und in der (musik-)revolutionären Praxis bestimmende Kraft. Die Väter (sic!) der musikalischen Revolution emanzipierten das Geräusch, den Zufall und die Klangerzeugung – nicht aber die komponierende Frau: In Darmstadt wurde das serielle Dogma nach 1945 von einer rein männlichen Troika installiert. Und in Donaueschingen muss man ausgehend vom Gründungsjahr 1921 lange durch die Archive blättern, um weibliche Namen auf dem Programm zu finden: Es waren, ausgerechnet im Symboljahr 1968, Cathy Berberian mit ihrer „Stripsody für Solostimme“ und Tona Scherchen mit „Wai“ für Stimme und Streichquartett mit Schlaginstrumenten. Immerhin traten damals gleich zwei Frauen erstmals auf die Bretter, die die Neue-Musik-Welt bedeuten; und doch schwingt Unbehagen mit: Die eine profitierte von ihrem berühmten Dirigentenvater Hermann; die andere war vor allem als geniale Interpretin bekannt – und Diven des Gesangs hatten von jeher eine musikalische Daseinsberechtigung: als hysterische Vollweiber und Bühnenschmuckstücke, was uns einerseits vom Thema weg-, andererseits über zwei verschlungene Pfade direkt zu Rebecca Saunders und dem Ernst von Siemens Musikpreis führt.
Erstens und um der Wahrheit Genüge zu tun: Rebecca Saunders ist nicht die erste Siemens-Preisträgerin: 2008 gewann Anne-Sophie Mutter als bislang einzige Musikerin die Auszeichnung – und wird bis heute nicht nur als Feigenblatt für alle Gender-Fragen herangezogen, sondern auch als Beleg dafür genommen, dass das Siemens-Kuratorium bei seiner Wahl musikästhetisch keineswegs eindimensional vorgeht – schließlich gehört die Geigerin nicht unbedingt zu den Fahnenträgern der Neuen Musik. Aber nun endlich, der Musikgöttin sei Dank, hat das Warten ein Ende: Rebecca Saunders gewinnt den Ernst von Siemens Musikpreis und erhöht damit die Frauenquote auf 2 zu 43 – was einen Prozentsatz von 95,35 zugunsten männlicher Preisträger ergibt: die Zahlen sprechen für sich.
Zweitens und im Kontext der singenden Vollweiber auf den Opernbühnen, die als Argument für weibliche Karrieren der Musikbranche herhalten müssen: Die englische Wahlberlinerin wagte sich lange nicht an die Stimme heran. Vielleicht um dem Diven-Klischee zu entgehen, vor allem aber aus Respekt vor Autoren und der Übersetzung ihrer Worte in Musik: „Die Stimme ist etwas sehr Persönliches – nicht nur, weil sie von Menschen gesungen wird, sondern weil man hochemotionales Terrain betritt.“ Langsam und vorsichtig näherte sich Rebecca Saunders diesem Potenzial. Erst 2016 entstand „Skin“ für Sopran und Ensemble für die Donaueschinger Musiktage, die noch 2017 explizit verkündeten, sich verstärkt komponierenden Frauen widmen zu wollen und immerhin zwei der acht Orchesterauftragswerke an Frauen – Bunita Marcus und Chaya Czernowin – vergaben. 2018 waren bei den sechs Orchesterwerken wieder ausschließlich männliche Namen zu lesen.
Doch zurück zu Rebecca Saunders und ihrem großartigen Werk „Skin“, geschrieben für Juliet Fraser, der sie – und das ist vielleicht doch eine weibliche Note – den Part der Stimme wie ein Kostüm auf den Klangleib maßschneiderte: „Allein wenn sie auf der Bühne steht, die Augen öffnet und schließt, wenn sie atmet, ist das ein Stück. Dieses dramatische und emotionale Potenzial macht mir fast Angst“, beschrieb die Komponistin die Arbeit mit ihrer Interpretin, der sie genügend Freiraum überlies, eigene Entscheidungen zu treffen – Freiräume, die derzeit eine Phalanx an Composer-Performerinnen nutzt, um eine weibliche avancierte Musikästhetik zu kreieren, die dem männlichen Dogma mit Körperlichkeit begegnet. Diese „Kombination von Emotion und Kontrolle“ ist für Juliet Fraser ein Grundelement in Rebecca Saunders’ Musik: „an dieser Schnittstelle finden wir Verletzlichkeit.“
Vielleicht sollte nicht zu stark betont werden, dass mit Rebecca Saunders 2019 zum ersten Mal eine Komponistin den Ernst von Siemens Musikpreis gewinnt. Das Kuratorium ehrt vielmehr ein kompositorisches Werk, „das durch seine produktive Widersprüchlichkeit, die Vielfalt klangfarblicher Nuancen und eine unverwechselbare Klangsprache ‚sichtbare‘ und bedeutende Spuren in der Musikgeschichte der Gegenwart hinterlässt.“ Rebecca Saunders’ Musik entsteht durch Ausprobieren und Experimentieren, durch das sensible Balancieren zwischen Stille, Geräusch und Ton. Das Ergebnis ist eine unverkennbare Klangsprache, die sich durch wirkungsvolle Spannungsverläufe und expansive Klangarchitekturen, eine große Vielfalt farblicher Nuancen, ungewöhnlicher Spieltechniken, variabler Raum-eindrücke und origineller Texturen auszeichnet.
Mit der 1967 in London geborenen und heute in Berlin lebenden Komponistin gewinnt zwar eine Frau den 45. Ernst von Siemens Musikpreis: eine Prima inter 43 Pares, deren Klangkunst allerdings völlig unabhängig von Geschlechterfragen schlicht und ergreifend großartige Musik ist.