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Eines der weltbesten Streichorchester: das Arcos Orchestra. Foto: www.arcosorchestra.de
Eines der weltbesten Streichorchester: das Arcos Orchestra. Foto: www.arcosorchestra.de
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Endender Anfang, beginnendes Enden: Das Arcos Orchestra zu Gast in München

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Am 12. Juni gab das Arcos Orchestra unter seinem künstlerischen Leiter John-Edward Kelly das Abschlusskonzert seiner Deutschland-Tournee in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in der Münchner Residenz. Man kann dem Musikkomittee der Akademie nur dankbar sein, dass solche Auftritte mit einem hierzulande fast gänzlich unbekannten zeitgenössischen Programm, die im kommerziellen Musikleben fast ganz unmöglich geworden sind, ermöglicht werden.

Und so war denn auch Siegfried Mauser als Leiter der Musikabteilung zur Stelle fürs Podiumsgespräch mit dem Dirigenten und Gründer des New Yorker Streichorchesters, John-Edward Kelly, der den meisten nach wie vor primär als phänomenaler Solist auf dem Altsaxophon ein Begriff ist. Das Gespräch offenbarte unter der Oberfläche durchaus eine Problematik, die für manchen Einzelkämpfer im Dienst einer großen Sache symptomatisch ist. Kelly bekannte, dass es für ihn von tragender Bedeutung ist, dass in der Musik in wie komplexer und entlegener Form auch immer tonale Bezüge wirken, und dass die Musik tanz- und singbar sein sollte. Schade ist dabei, dass eine solche entschiedene Haltung zwar fast immer Hand in Hand mit einer Aversion gegen die Ignoranz des Establishments geht, jedoch weder in eine offene Konfrontation noch in kunstvolle Geschmeidigkeit des Umgangs mündet, und dass derart unterschwellig überall potentielle Gegnerschaften gewittert werden. So blieben der um Moderation bemühte, tolerante Pluralismus Siegfried Mausers und Kellys energisches Botschaftertum letztlich nebeneinander bestehen, ohne dass wirkliche Brücken geschlagen worden wären.

Umso unwiderstehlicher entstand die Musik an diesem Abend. John-Edward Kelly hat in New York ein wirkliches Wunder vollbracht, mit zwanzig jungen Musikern durchweg hohen Karats, darunter einigen Abgängern der Juilliard School, unter schwierigsten finanziellen Bedingungen, mit musikalischen Schwerpunkten, die völlig abseits aller diversen Mainstreams der Metropole liegen. Das Arcos Orchestra ist heute ohne jeden Zweifel eines der weltbesten Streichorchester, und in einem Konzert wie diesem in München, wo sie über sich hinauswuchsen, kann ihnen vielleicht kein anderes Kammerorchester das Wasser reichen, was das Zusammenwirken von technischer Vollendung, klanglicher Fokussierung und sinnfälliger Phrasierung betrifft. Hinzu kommt, dass Kelly ein exzellenter Dirigent ist, der nicht nur gestisch eindeutig, suggestiv plastisch und mit geschmeidiger Eleganz seine Intentionen vermittelt, über extrem schnelle Reaktionen verfügt und die komplexen Fakturen bis ins kleinste Detail präsent hat, sondern darüber hinaus das Sangliche und Tänzerische mit dem ganzen Körper vorlebt.

So stand am Anfang eine Holberg-Suite von Edvard Grieg mit bezauberndem Charme, eindringlich erfühlt in ihren Verästelungen und dabei absolut unsentimental in der Gemütstiefe. Dann das aufrüttelnde Konzert für Violine und Streicher von Anders Eliasson, dem schwer erkrankten Composer-in-Residence seit der Gründung des Orchesters. Eliassons Tonsprache ist einzigartig in ihren Bezügen, in ihrer neuartigen, schwebend dissonanten Tonalität und der daraus resultierenden freien Kontrapunktik, in ihren wilden energetischen Prozessen – eine Musik, die den Hörer einfordert wie keine andere, die ihm in ihrem unausgesetzten, unvorhersehbaren Fortgang, im aus sich selbst sich formenden Zusammenhang alle Präsenz und Hingabe abverlangt, wie natürlich auch den Musikern.

Elissa Cassini erwies sich als makellose, tonmächtige, geschmackssichere und so feinnervig wie kantabel und machtvoll eindringlich gestaltende Solistin in diesem 1992 entstandenen Konzert, das drei Sätze in einem vereint. Die Musik beginnt in medias, man wird mitten hinein geworfen in einen Prozess, der ohne Halten fortreißt – ein bisschen wie die Weltraumschlacht in der Rache der Sith aus Star Wars. Erst nach und nach stellt sich heraus, was für eine energetische Geschichte da geschrieben wird, auf welche Reise uns der Komponist mitnimmt – oder besser, auf welche Reise uns diese Musik mitnimmt, der er nach bestem Willen sich als Medium überlassen hat.

Der Anspruch bleibt konstant enorm: Es folgen die 1985 komponierten Variationen für Streicher von Hollands großem Symphoniker Tristan Keuris (1946-96) – ein gleichfalls technisch und architektonisch sehr anspruchsvolles Werk in unmittelbarer Nachfolge der klassischen Moderne, bei aller emotionalen Aufgeladenheit eine Musik von vollendeter Balance der Form, die keinen herkömmlichen Formvorstellungen entspricht. Keuris’ Musik ist in sich stimmig und ausgewogen und von einer nie abreißenden Kontinuität des Empfindungsstroms, der über eine klar ziselierte freitonale Harmonik gesteuert wird.

Nach einem kurzen Interview, das Kelly mit der Komponistin führte, spielten die Arcos-Musiker das theatralisch-pointillistische Tongedicht ‚Wind-Blown Seeds’ von Nicola Lefanu, entstanden 2012 und bei allen guten Ideen und aparten Einfällen, bei aller surreal oszillierenden Finesse des lichten Streichersatzes in der kurzatmigen Diskontinuität des Formverlaufs das oberflächlichste Stück des Abends – man hörte gerne zu, doch mitnehmen konnte man nicht allzu viel.

Ganz anders bei Anders Eliassons beschließendem ‚Ein schneller Blick … ein kurzes Aufscheinen’, entstanden 2003, einer Art einsätziger Kammersymphonie von abgeklärterem, gleichwohl nicht minder intensivem Ausdruck als das Violinkonzert. Rein qualitativ steht Eliasson damit in einer Reihe mit den großen Meisterwerken für Streichorchester von Bach über Bartók hin zu Pettersson. Was ist es eigentlich, was in Eliassons Musik darüber hinausweist, die Hörer einfach nur mitzureißen, was ist es, was diese Transzendenz über alle physischen, emotionalen und intellektuellen Reize hinaus ermöglicht? Sie erschließt einen bisher unentdeckten, unendlich scheinenden Raum, und orientiert sich innerhalb dieser unerkundeten Weiten mit all ihren Abgründen, Klippen und Höhenflügen mit traumwandlerischer Sicherheit.

Es ist irgendwie paradox, als wären alle traditionellen Verhältnisse umgekehrt, als begänne Anders Eliassons Musik stets mit einem Ende und als ende sie immer in einem neuen Anfang, die Partituren sind Logbüchern gleich Zeugenberichte unterwegs in eine unabsehbare Zukunft jenseits der linearen Zeitvorstellungen. Dieser Musik den letzten Schliff zu geben, unablässig auf Messers Schneide, war das nicht überschätzbare Verdienst John-Edward Kellys und des Arcos Orchestra, das, hellwach angeführt von Konzertmeister Marc Uys und der vortrefflichen Stimmführerin der Celli, mit dem Dirigenten zu einer bemerkenswerten akustischen und optischen Einheit verschmolz.

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