Wir leben in herrlichen Zeiten! Denn endlich wird eine schmerzlich klaffende Lücke in unserem Leben digital gefüllt: Von jetzt an kann ich auch mit meinem tollen neuen Handy oder mp3-Player Oper im „Live-Stream“ erleben. Malen wir uns das mal aus:
Da kann ich dichtgedrängt im Feierabendverkehr der U-Bahn einer Angebeteten Don Giovannis „Reich mir die Hand, mein Leben“ hinhalten! Da brauche ich keine Haltstange mehr! - Oder angesoffenen Rowdies Otellos gellenden Racheschrei „Ha, Blut! Blut! Blut!“ – da werden die aber abhauen! Oper also als wirkliche Lebenshilfe! – Sie haben kein Breitband-Handy? Aber doch zuhause den richtigen Anschluss?! Also dann geht das auch auf Ihrem PC: Den unaufgeräumten Schreibtisch übersehen Sie einfach! Sie machen es sich mit Flasche und Gläsern auf all den unerledigten Papieren so richtig gemütlich und versuchen es parallel mit Nemorino samt seinem „Liebestrank“ aus der Bayerischen Staatsoper. Doch nicht die richtige Atmosphäre? Es geht natürlich auch aufrecht im Bett sitzend, den Kleinbildschirm Ihres Notebooks auf der Bettdecke – und wenn dann demnächst mal Tristan und Isolde „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ anstimmen, dann ist hoffentlich Ihre Skype-Kamera ausgeschaltet…
Ernsthafter: So schön sich die „Innovation“ der bayerischen Staatsoper liest, per Live-Stream am 7.1. eine „Liebestrank“- und am 22.1. eine „Don Carlo“-Aufzeichnung kostenlos ins World-Wide-Web zu stellen: es bleibt eine Verkleinerung des oft überwältigenden Erlebnisses „Musikalisches Theater“. Sie müssen nämlich über einen DSL-Anschluss, einen hochgerüsteten PC oder ein sehr modernes Fernsehgerät mit Internetanschluss verfügen, sonst geht nichts oder das Bild ruckelt. Vor allem aber bleibt das Tonproblem, denn die im Fernseher oder PC ein- oder angebauten Lautsprecherchen verkleinern Stimm- und Orchesterklang doch drastisch.
Damit sei die digitale Verbreitung der vermeintlich elitären Kunstgattung „Oper“ keineswegs abgelehnt. Die Madrider Oper unter Gérard Mortier liefert das wünschenswerte Vorbild: aus dem hauseigenen digitalen Fernsehstudio liefert die von den Bühnenproben mit Werk und Szenen vertraute Fernsehregie via 9 Kameras, Stereo-Ton und „5.1-Surround-Sound“ eine möglichst werk-, musik- und inszenierungsgemäße Erfassung jeder(!) Premiere - auf Großbildschirmen als “Public Viewing“ vor dem Opernhaus oder in andere Orte, im spanischen TV-Kanal „MEZZO“, auf angeschlossenen Partner-Kanälen weltweit und in meist über 100 Kinos auf allen Kontinenten. Gesellschafts- und kunstpolitisch werden so die von allen Steuerzahlern aufgebrachten Gelder als “public value“ wiederum zugänglich gemacht – für all die, die eben nicht 100 Euro für den Opernabend ausgeben können. In einem guten Kino mit Großleinwand und Surround-Sound, vielleicht festlich angezogen, hoffentlich ohne Popcorn, aber durchaus mit einem Sekt-Piccolo zur Pause könnte das im Wohnort fernab der Bayerischen Staatsoper ein reizvoller Abend sein – demnächst mit 3D-Technik sogar Bühnentiefe beschwören… ja, und hoffentlich Lust auf Live-Theater machen!
(7.1. Donizetti „L’elisir d’amore“ ab 18.50 Uhr, am 22.1. ab 16.50 Uhr „Don Carlo“ unter www.staatsoper.de)