Es gibt gesellschaftliche Themen, die brechen wie ein Paukenschlag über uns herein; von heute auf morgen sind sie in aller Munde wie der schlampige Umgang mit Visa-Erlassen oder die Nebenverdienste unserer Volksvertreter. Andere Fragestellungen – von häufig viel weit reichenderer Bedeutung – schleichen sich erst langsam in die Medien und noch langsamer ins Bewusstsein einer breiteren Bevölkerung. Dabei bleibt ihr kultureller oder gar musikalischer Bezug in tiefstem Dunkel. Die so genannte EU-Dienstleistungsrichtlinie, präsentiert von der Europäischen Kommission, ist solch ein Thema.
Erst nach und nach findet sie Eingang in die Berichterstattung von Tageszeitungen oder Funk und Fernsehen. Die Kulturschaffenden in der Breite scheint sie noch immer nicht erreicht zu haben. Kein Wunder: Welcher künstlerisch Kreative hat schon Lust, sich mit einem derart bürokratisch anmutenden Wort-Ungetüm oder gar mit weiteren abschreckenden Begriffen wie „Daseinsvorsorge“ oder „Grundversorgung“ zu beschäftigen? Die jetzt von Politikern und Fachverbänden – auch den kulturellen – geführte Diskussion zu ignorieren wäre allerdings gerade für Musiker falsch. Denn sollte sich eine solche Richtlinie durchsetzen, würde dies grundlegende strukturelle Veränderungen für das deutsche Kulturleben bedeuten.
Worum geht es genau? Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, erläutert die Eckpunkte der Richtlinie auf Seite 34 dieser Ausgabe. Der europäische Binnenmarkt soll nicht nur im Bereich des Warenverkehrs, sondern auch des Dienstleistungssektors liberalisiert werden – ausnahmslos. Ziel ist es, Europa bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Das leuchtet ein: Gehörten wirtschaftliche Prosperität und freie Wege nicht zu den zentralen Themen aller europäischen Einigungsprozesse, die seit den 50er-Jahren eingeleitet wurden?
Für die Kultur aber, so scheint es, birgt diese Entwicklung große Gefahren. Konkret festmachen lässt sich dies am „Herkunftslandprinzip“ – ein weiteres abschreckendes Wortgebilde, hinter dem sich eine zentrale Forderung dieser Richtlinie verbirgt. Danach unterliegt der Dienstleister ausschließlich den Rechtsvorschriften des Landes, in dem er „niedergelassen“ ist: Tschechisches Baurecht soll für tschechische Firmen in Deutschland ebenso gelten wie spanische Fliesenleger-Vorschriften für spanische Fliesenleger. Tarifstandards zum Beispiel von Orchestermusikern oder Chorsängern betrifft das ebenso wie die Ausschüttungsprinzipien der Verwertungsgesellschaften. Die freilich setzen sich gegen eine Aufhebung des „Territorialprinzips“ heftig zur Wehr. Der Traum von einem flexiblen – jedenfalls unübersichtlichen – Regelwerk, das dann eben nicht mehr für alle in einem Mitgliedsstaat Tätigen gleich wäre, ist klar formuliert – und daher angreifbar. Zu Recht monieren Fachverbände wie der Deutsche Kulturrat, aber auch die Europäische Allianz der Medien- und Kulturschaffenden (EAEA), dass hier Standards nach unten nivelliert werden sollen, die nicht nur die soziale Lage der Künstler, sondern auch Qualitäts-Maßstäbe betreffen.
Was bedeutet diese „Liberalisierung“ darüber hinaus für den Kulturbereich? Befördert sie etwa einen allseits ersehnten internationalen Kulturaustausch? Erlaubt sie eine Intensivierung künstlerischen Dialoges über Grenzen hinweg? Mahnt sie vielleicht einen Zustand an, den Künstler und Kulturschaffende längst als Status quo kennen? Oder bedeutet sie konkret, dass der Kompositionsauftrag eines Stadttheaters nun europaweit ausgeschrieben werden muss und dann dem Komponisten erteilt wird, der die niedrigsten Honorarforderungen stellt? Wird demnächst die „Figaro“-Inszenierung aus Belgien gekauft, die „billiger“ ist als die der eigenen Bühne? Oder bedeutet es, dass eine Kommune künftig gar kein Theater, keine Musikschule mehr fördern darf, wenn es am gleichen Ort auch eine private Einrichtung dieser Art gibt?
Dem Ganzen liegt doch ein Denkfehler zugrunde. Eine Richtlinie für „Dienstleistungen“, die Dienstleistungen als „selbständige wirtschaftliche Tätigkeiten“ definiert, bei denen „einer Leistung eine wirtschaftliche Leistung gegenübersteht“, soll hier einer gesellschaftlichen Leistung übergestülpt werden, die in weiten Bereichen so gerade nicht funktioniert. Quantitative Maßstäbe können für Kultur und Bildung nicht allein das Eichmaß sein. Noch akzeptieren viele, dass ein Kunstwerk nicht allein Ware ist, deren Wert sich am Ertrag bemessen lässt, sondern ein Lebensmittel. Deshalb ist der Kreative viel mehr Dienst-Leister im eigentlichen Wortsinn als ein Unternehmensberater oder Versicherungsmakler. So fordert die ehemalige Europa-Abgeordnete Karin Junker (SPD) zu Recht, „die Bereiche Kunst, Kultur und Medien völlig aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszuklammern“ (politik und kultur 2/05).
Nachdenklich stimmt, dass die Diskussion überhaupt in dieser Form geführt wird. Zwar haben auch deutsche Politiker inzwischen Pferdefüße der Richtlinie erkannt. Die Vorbehalte jedoch konzentrieren sich auf die Gefahr eines möglicherweise zu erwartenden „Lohn- und Sozialdumpings“, allenfalls erweitert auf Fragen der Bildung und der Sozialwirtschaft. Kunst und Kultur spielen dabei keine Rolle. Zeichen dafür, dass es – wie Junkers schreibt – „an lauten Stimmen für die Kultur fehlt“. Zeichen aber auch dafür, dass Bundes- und Europa-Abgeordnete die grundlegende Bedeutung von Kunst und Kultur nicht (mehr?) wahrnehmen. Fehlt es ihnen womöglich an kultureller Bildung? Ein Grund mehr, Kultur nicht zur Ware herunter zu definieren.