Jeder fängt einmal klein an. Aber so klein? In Hersbruck, einem malerischen 13.000-Einwohner-Städchen im Nürnberger Land, hat alles damit angefangen, dass der Sohn des Bürgermeisters Wolfgang Plattmeiers, ein Gitarrist, mit dem in der Region verfügbaren Unterricht und mit den Workshops unzufrieden war.
Plattmeier, ein gemütlicher, etwas hemdsärmelig wirkender Sozialdemokrat, gleichwohl ein gewiefter, zäher und erfahrener Ermöglicher von vermeintlich Unmöglichem, tauchte daraufhin bei einem Gitarrenfestival in Spanien auf und fragte die Top-Gitarristen Josep Henriquez und Arnoldo Moreno, ob sie dieses Festival nicht einfach in Hersbruck kopieren könnten. Während die beiden noch über den Charme des Angebots nachdachten, hatte Plattmeier bereits alles in die Wege geleitet. Und so ging es los, mit drei Künstlern vor insgesamt etwa dreihundert Zuschauern und mit Kursen, die Hernandez und Moreno überwiegend mit eigenen Schülern bestückten.
Geht man in diesen Tagen, elf Jahre später, durch Hersbruck, kommt man an kaum einem Schaufenster vorbei, das nicht mit dem Festival plakatiert oder gar einschlägig dekoriert ist. 400 bis 500 Besucher aus nah und fern füllen jedes der Konzerte, die inzwischen nur noch bei besonders Besinnlichem in der kleinen Johanneskirche, sonst aber in der sehenswerten Stadtkirche stattfinden, im Weinlager der Firma Raum oder im „Dauphin Speed Event“, einer rund um eine beeindruckende Oldtimer-Privatsammlung errichteten und normalerweise nur an große Gesellschaften vermietete Lokalität. Nicht nur mit Dutzenden Gitarreneleven, auch mit manchem Einwohner, der vor wenigen Jahren noch nicht wusste, was ein Plektron ist, kann man über Gitarrenmusik fachsimpeln. Im „Verein zur Förderung des Internationalen Gitarrenfestivals“ sitzen wie selbstverständlich die wichtigsten Honoratioren der Stadt, und auch der neue Bürgermeister Robert Ilg, der dem nach 24 Dienstjahren altersbedingt scheidenden Plattmeier nachfolgte, ist mit stolz geschwellter Brust omnipräsent: Das Internationale Gitarrenfestival Hersbruck ist am Ort das kulturelle Ereignis des Jahres und, wie es die Politiker so gerne ausdrücken, ein Leuchtturmprojekt für die ganze Region.
Was aber hat das Festival in so kurzer Zeit so erfolgreich gemacht, abgesehen davon, dass das Team um Petra Hofmann, im Rest des Jahres Chefin des Tourismusbüros, Musikern wie Besuchern jeden Wunsch von den Lippen abliest? Der erste Festivalleiter Arnoldo Moreno legte das Festival anders als die meisten anderen stilistisch offen an, nahm neben klassischer Gitarre viel Lateinamerikanisches ins Programm. Als wegen einer Erkrankung Morenos vor fünf Jahren Johannes Tonio Kreusch die künstlerische Leitung übernahm, wurde die Bandbreite noch einmal rigoros erweitert, vom Jazz über Fingerstyle bis zu zeitgenössischer moderner Musik und einem Rock- und Pop-Bandworkshop, der für die Abschlussparty zuständig ist. In noch größerem Maße wurde die Lehre mit Workshops, Vorträgen und Kursen verbreitert und für jeden interessierten Zaungast geöffnet. Und dank seiner weltweiten Kontakte und seiner hinter einer sympathischen Schüchternheit verborgenen Überredungsgabe brachte Kreusch das Festival noch einen entscheidenden Schritt voran: es wurde zum Familientreffen der internationalen Gitarrenszene. Los Romeros, die „königliche Familie“ der Gitarrenzunft, waren bereits hier, das Grammy-gekrönte Los Angeles Guitar Quartet, Lautenstar Robert Barto, Fingerstyle-Pionier Don Ross, der meistgespielte zeitgenössische Komponist Leo Brouwer und nahezu alles andere, was an den Saiten Rang und Namen hat. Und die meisten kommen gerne wieder.
Eine der Voraussetzungen dafür ist der Glücksfall, dass man das etwas außerhalb am Waldrand gelegene AOK Bildungszentrum als Festivalzentrale nutzen kann. Abgesehen vom leicht abgelebten 70er-Jahre-Charme bringt der Gebäudekomplex ideale Voraussetzungen mit: Wo sonst Azubis die Feinheiten des Krankenversicherungswesens lernen, sitzen im August Meister, Schüler und Freunde der Gitarre wie die Glucken aufeinander – in den Schulungsräumen, im Foyer, in der Kantine und – am wichtigsten – noch spätnachts im rustikalen Bierstüberl. Jeder trifft unweigerlich jeden, alles ist öffentlich.
Weil auch der größte Star neben dem Konzert Workshops und Einzelunterricht gibt, bleibt hier jeder mindestens zwei Tage da – und ist nicht wie bei so vielen Festivals nach dem Konzert wieder verschwunden. Jeder kann hier noch etwas lernen, Bekanntschaften machen, Freundschaften pflegen. So etwas spricht sich herum. Als im vergangenen Jahr Juan Manuel Cañizares, einer der aktuellen Götter der Flamenco-Gitarre, eigentlich nur zu einem Vielfachen der innerhalb des bescheidenen Etats möglichen Gage kommen wollte, bekam er einen Anruf von Eliot Fisk, sich das noch einmal zu überlegen. Cañizares kam. Und vor zwei Tagen kehrte er zurück, gab einen Workshop, legte mit seiner Grupo eines seiner unvergleichlichen Nuevo-Flamenco-Konzerte hin, die beweisen, dass die Umarmung der Weltmusiken durch den Jazz im vergangenen Jahrzehnt keine Einbahnstraße war, und ward danach bis drei Uhr im Bierstüberl inmitten einer wild jammenden Schülerschar an Cajon und Djembe gesehen – obwohl er anderntags um acht Uhr früh im Auto nach München sitzen musste.
Dienst nach Vorschrift macht hier also niemand, auch kein Weltstar. Und so sind die Konzerte meist etwas Besonderes. Nicht nur, wenn Kreusch selbst gemeinsam mit seiner Frau, der Geigerin Doris Kreusch-Orsan und der amerikanischen Mezzosopranistin Nan Maro Babakhanian seinem langjährigen Freund, dem kubanischen Komponisten Tulio Peramo, ein kammermusikalisches Werkporträt widmet – und sich der Meister, erstmals in Deutschland weilend, mit einem eigens für Hersbruck komponierten Ensemblewerk für zwölf Gitarren revanchiert, das am Freitag, den 20. August, seine Welturaufführung erleben wird. Dass Kreusch seinen Peramo Abend in ein Doppelkonzert mit Peter und Zoltan Katona, bekannt als „Katona Twins“, einband, ist typisch für das Konzept: Die anspruchsvolle, alles Mögliche von Bach über den Afrokubismus bis zu den mystischen Klangfärbungen des Yoruba-Kult oder den volksreligösen Elementen eines Sergei Prokofiev in eine moderne Form einbindende Musik Peramos steht da neben den beiden Virtuosen der Pop-Klassik, die Scarlatti bei Bedarf in Rockmusik verwandeln und eine Bach-artige Fuge zum Medley mit Michael-Jackson- und Nirvana-Songs ausformen können – nicht ohne Grund waren die Katonas zuletzt bei der „Night of the Proms“ in den ganz großen Hallen dabei.
Und so geht es auch wunderbar zusammen, dass der immer noch blutjunge Diknu Schneeberger, bereits vor drei Jahren von der SZ zum Jahrhunderttalent ausgerufen, sich für seinen kinderleicht daherkommenden, dabei doch so aberwitzig schwierigen Gypsy Swing ebenso feiern lassen darf wie David Russell, der in Spanien aufgewachsene und lebende Schotte auf dem Thron der klassischen Gitarre. In Hersbruck zeigte der große Philanthop, dass er den Grammy nicht nur für seine Virtuosität und seinen unerreicht warmen und vollen Ton bekommen hat, sondern nicht zuletzt für seinen anrührenden Optimismus, den er allen Werken einimpft – vom fröhlichen französischen Barock eines Couperin wie seines mitunter durchaus schwermütigen deutschen Zeitgenossen Bach bis zu Modernisten wie Francis Kleynjans (selbst wenn dessen „Arabesque en Forme de Caprice“ den Tod Francisco Tarregas reflektiert) oder den – unpublizierten - federleichten landestypischen Stücken des Brasilianers Armando Neves, der einst gar Profifußballer war. Das Alte verleiht dem Neuen hier Tiefe, das Schwierige befruchtet das Einfache, und umgekehrt. Alles rundet sich hier familiär zu einen großen Ganzen. Freilich bleibt es eine Familie von Individualisten. Was zum Beispiel sehr klar wird, wenn der marokkanische Oud-Virtuose Driss El Maloumi in seinem Workshop staunenden Besuchern die Geheimnisse der arabischen Musik zu erklären versucht. Auch im Einzelunterricht bleibt das für manchen Gitarrenschüler eine Geschichte aus tausendundeiner Nacht – und ein Buch mit sieben Siegeln.
Dabei muss man eben nicht Gitarre spielen, um in diesen Familienkreis aufgenommen zu werden. Ob Musikpädagoge, interessierter Laie, Klassikfan, Jazzfreak oder auch nur als einer, der an Begegnungen und Gesprächen interessiert ist – für alle lohnt sich ein Abstecher nach Hersbruck. Wer sich kurzentschlossen auf den Weg macht, kann noch eine Fülle von Eindrücken gewinnen: Von den diversen Errungenschaften der Fingerstyle-Szene (heute, Mittwoch Abend mit Jacques Stotzem, Claus Boesser-Ferrari und den LAGQ-Cracks Andy York und Scott Tennant) über den aktuellen Stand der Musica Popular Brasileira (Donnerstag Abend, mit der derzeit besten brasilianischen Gitarristin Badi Assad) und der Welturaufführung von Tulio Peramos modernem Ensemblewerk für zwölf Gitarre bis zur zwischen Orient und Okzident pendelnden, innerhalb der traditionellen arabischen Formen improvisierenden Lautenkunst von Driss El Maloumi (Freitag). Die abschließende großen Sause mit der Studentenband am späten Freitag Abend richtet sich endgültig an die ganz große Musikfamilie: Dozenten und Taktgeber sind immerhin Jazzgitarrist Stephan Bormann, Bassist Martin Engelien, dessen Biographie die Arbeit für unzählige Weltstars aus Jazz, Rock und Pop einschließt, der Revolutionär der Drum-Pedale Manni von Bohr und Jutta Weinhold, in den vergangenen Jahrzehnten eine der prägenden deutschen Stimmen des Rock.
Das 11. Internationale Gitarrenfestival Hersbruck dauert noch bis 21. August.