Im 100. Jahr der Uraufführung von Franz Schrekers erster selbst gedichteter Oper und im Jahr ihres 40. Jubiläums brachte die Opéra National du Rhin, als Zusammenschluss der Häuser in Strasbourg und Mulhouse, „Der ferne Klang“ zur französischen Erstaufführung. Die erstmalige Aufführung einer Oper des seit dem Jahre 1979 konsequent und nachhaltig wiederentdeckten Komponisten in Frankreich wurde umrahmt durch zwei Konzerte und durch ein dreitägiges wissenschaftliches Colloque International, „Franz Schreker et sons temps“.
Die Inszenierung von Stéphane Braunschweig, der auch für die Ausstattung verantwortlich zeichnet, beginnt karg. Ein Stuhl vor dem Hauptvorhang, auf dem der Komponist Fritz Platz nimmt um die Klänge des Vorspiels in seinem Kopf zu vernehmen und sich von seiner Jugendliebe Greta zu verabschieden. Auch wenn sich der Vorhang öffnet, bleibt die Idee des Theaters auf dem Theater dominant. Denn der Weg in die Welt, den Fritz, später die Kupplerin und dann auch Grete nehmen, führt durch die einzige Öffnung in einer trostlos grauen Brandmauer, und diese Tür ist mit leuchtenden Buchstaben als „Bühne“ überschrieben.
In der Imagination der Welt des Theaters sind dann die grünen Kegel des Wirtshauses, in dem Gretes trunksüchtiger Vater die Tochter an den Wirt verspielt hatte, zu einer übergroßen Formation gewachsen und symbolisieren ebenso einen Wald von Bäumen, wie jene phallische Vielfalt, die Grete auf ihrem Weg als Prostituierte zu erwarten hat. Eine wellige rote Blumenbeet-Landschaft, auf der sie der Kupplerin in Zeitlupe folgt, ist dann – im zweiten Akt an die Rampe vorgefahren – die Lustwiese eines Nobelbordells, auf dem eine siebenköpfige Banda die „Zigeunermusik“ live aufspielt.
Alle Freier, ausgenommen nur Graf und Chevalier mit Zylindern, tragen Fischköpfe (Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck). Ein hoher Korb mit gefangenen Fischen überspitzt später diese Bildfindung, denn Fritz kippt die toten Fische über Greta, um seine Beschimpfung der durch ihn zur Hure gewordenen Greta als „Dirne“ zu unterstreichen.
Der Doppelfrage von Fritz’ Freund Rudolf, „Wie sieht... wie sah sie denn aus?“ folgend, erscheint Grete dem Komponisten dann wieder als jenes kindliche Mädchen, das er einst verlassen hatte, um der Suche nach dem Phantom des fernen Klanges in die Welt zu folgen. So löst Grete in Braunschweigs Inszenierung auch durch ihr Erscheinungsbild die in Fritz’ Oper „Die Harfe“ misslungene Zeichnung des Glücks im letalen Erleben des Komponisten ein.
Das eigentliche Ereignis der Aufführung ist denn auch die finnische Sopranistin Helena Juntunen in der weiblichen Hauptrolle. Liebreizend spielerisch charakterisiert sie das junge Mädchen und setzte dafür kindliche Klangfarben und auch stimmlichen Witz ein, etwa, wenn sie die Worte des Wirtes parodiert. In Gesang und Spiel gleichermaßen grotesk bis drastisch gestaltet sie die Luxushure mit ganz anderen Farben, auch in der vokalen Spechmelodie der melodramatischen Passagen, zwischen Deklamation und Singsang durchaus überzeugend und dabei auch leidenschaftlich ordinär in der Darstellung, etwa im Markieren einer Fellatio. Bemitleidenswert körperlich und geistig gebrechlich dann als Straßenhure, und im Schlussbild als Kindfrau und zugleich erfahrene Liebesdienerin, mit dramatisch großen Bögen zur unmissverständlich erotisch konnotierten Wortwahl im Abschlussduett.
Der rundum überzeugenden Leistung steht in der Partie des Komponisten Fritz ein Tenor gegenüber, der mit weitaus geringerer Farbpalette aufwarten kann; als indisponiert angekündigt, hielt Will Hartmann die Premiere gut durch, oktavierte allerdings die finale Exklamation des zweiten Aktes.
Wie schon beim „Fernen Klang“ in Bonn, sind die Darsteller in Fritz’ Oper „Die Harfe“ identisch mit jenen des zweiten Aktes. Als die gealterte, als Besucherin der Uraufführung im Theater zusammengebrochene Grete auf der Bank vor der Brandmauer Platz nimmt, muss sie eine der Fisch-Kopfbedeckungen der Darsteller der Oper in der Oper zur Seite schieben.
Im ersten Akt tönt der von Michel Capperon einstudierte Chor aus dem Off, so dass die besungenen Handwerker vom Schmierenschauspieler im Publikum angenommen werden. Anstelle der Fernchöre singen fünf Solistinnen auf der Bühne, und der fischköpfige Herrenchor der Freier bleibt arg statisch.
Hochkarätig ist die Nebenrolle des Vaters mit Martin Snell besetzt. Die einstens sehr gefragte Livia Budai lässt in der Doppelpartie von Alter Frau und Spanierin mit etwas peinlichen Altweibersex in der Intonation zu wünschen. Beachtliche Leistungen boten Stephen Owen als Winkeladvokat Dr. Vigelius und Baron, Geert Smits in der Kombination der Partien Schmierenschauspieler, Graf und Rudolf und Stanislas de Barbeyrac in den Rollen als Chevalier und Zweifelhaftes Subjekt.
Graf und Chevalier geben für ihre Werbewettgesänge dem Dirigenten den Einsatz.
Marko Letonja lässt das Orchestre philharmonique de Strasbourg unter seiner Stabführung enormen Klangreichtum entfalten. Polyphonie, Polyrhythmik und Klangfeldüberlagerungen gelingen trefflich, aber manche Motive geraten zu gegenständlich, und die fernen Klänge im dritten Akt ertönen nicht nur zum Greifen nah, aber auch geradezu plastisch.
Der mit zwei Pausen erst nach 23 Uhr endende Premiere erntete einhelligen Erfolg.
Schreker-Konzerte
13 Studierende der Académie Supèrieure des Musique de Strasbourg und des Conservatoire à Rayonnement Régional de Strasbourg brachten in einem Kammerkonzert Schrekers 1909 für die Schwestern Wiesenthal komponiertes Tanzspiel „Wind“ zur Aufführung, gefolgt von der frühen Violinsonate. Im Zusammenspiel der Studierenden und dem Pariser Ensemble Voix Etouffées, leitete Amaury du Closel Franz Schrekers Kammersymphonie für 23 Soloinstrumente. Die im Jahre 1916 zur Kammersymphonie geronnene Musik des Opernprojekts „Die tönenden Sphären“ ist thematisch der Handlung des „Fernen Klang“ verwandt, lässt aber auch Elemente aus den „Gezeichneten“ und dem „Spanischen Fest“ anklingen.
Stärker als die Mezzosopranistin Anna Holroyd mit den Fünf Gesängen in der Kammerorchesterfassung von Gösta Neuwirth in besagter Orchesterkonstellation, vermochten in einem weiteren Konzert junge Studierende den Intentionen Franz Schrekers als Lied-Komponist nahe zu kommen. Sie standen großenteils zum ersten Mal auf einer Bühne, als sie 22 Lieder Franz Schrekers aus den Jahren 1897 bis 1909 interpretierten. Herausragend dabei der Tenor Jean-Noel Teyssier, mit Lenz“ nach Paul Heyse und einem der beiden, schlicht katholischen Vertonungen des „Ave Maria“,mit Schmeldz und müheloser Höhe. Aufhorchen ließ auch die Sopranistin Cècile Lohmuller, unter anderem mit der Uraufführung des – in seiner einzigen handschriftichen Überlieferung kurz vor Ende abbrechenden Liedes „Auf die Nacht“, auf einen Text von Paul Heyse.
Schreker-Symposion
Ein in Zusammenarbeit mit der Opéra National du Rhin mit der Université de Strasbourg veranstaltetes, dreitägiges Symposion widmete sich zunächst der stilistischen Ästhetik des Komponisten, dann einzelnen speziellen Themen.
Schreker-Biograph Christopher Hailey aus Princeton umriss Rezeption und Interpretation dieser Oper zu unterschiedlichen Zeiten im In- und Ausland. Peter Franklin aus Oxford untersuchte Schrekers Modernität und die Referenz dieser Musik als „Kino-Oper“, sowie die Erfindung des Regietheaters in der Opernhandlung des „Christophorus“. Ulrike Kienzle verwies in ihrem Beitrag über archaische Bezüge der Äols-Harfe zur Harmonie der Sphären und sieht in Fritz’ Scheitern das „Ende der Romantik“. Sherry D. Lee aus Toronto untersuchte die in den Zwanzigerjahre beschrieene Opernkrise und die unterschiedlichen Haltungen von Schönberg und Schreker, verwies aber auch auf eine 1926 von Schreker entworfene, dann in „Christophorus“ übernommene Filmszene. Matthew Werley aus East Anglia untersuchte Hintergründe und Aufführungspraktiken bei Schrekers Tanzspielen, die in Wien durch die Schwestern Wiesenthal zur Aufführung kamen.
Der bislang unterbelichteten Tätigkeit Schrekers als Dirigent des Philharmonischen Chores Wien in den Jahren 1908 bis 1920, hat Daniel Lienhard aus Basel umfangreiche Studien gewidmet. Während Schönbergs „Gurrelieder“, „Friede auf Erden, die Zemlinskys XXIII. Psalm auch heute noch geläufig sind, kamen in den 32 Programmen weitere 45 Kompositionen zur Uraufführung, die heute vornehmlich vergessen sind, wie etwa Ludwig Thuilles „Traumsommernacht“ oder Jean Louis Nicodés Gloria-Symphonie. Wie am Klangbeispiel von Walter Braunfels’ „Offenbarung des Hl. Johannes“ deutlich wurde, vermöchten die von Schreker uraufgeführten Werke durchaus auf neues Interesse zu stoßen.
Der an der Strasbourger Universität tätige Schweizer Beat Föllmi warf Schlaglichter auf Gegensätze zwischen Schönberg und Schreker in ihrer Rezeption der Kunst Gustav Mahlers. Der kompositorischen Aneignung Mahlers durch Schreker, insbesondere im Spätwerk, hat Martin Kapeller aus Wien aufschlussreiche Untersuchungen gewidmet. Schreker, der nach Mahlers Tod kurzzeitig mit Alma Mahler liiert war, habe insbesondere auf die Mahler-Rezeption nach 1920 reagiert. Mahlersche Topoi machte der Referent an Schrekers „Kleiner Suite“ aus dem Jahre 1928 deutlich.
Saverio Porry Pastorel aus Florenz,, der über Franz Schrekers Lieder promoviert hat, untersuchte anhand der Oper „Der singende Teufel“ den Kontrast zwischen Diesseits und Jenseits und deren Synthese in der Groteske. Der Verfasser verdeutlichte Kanonisches in der szenischen Deutung der „Gezeichneten“ seit der Uraufführung, insbesondere aber der Frankfurter Wiederaufführung im Jahre 1979 durch Hans Neuenfels.
Gavin Plumley aus London verwies in seiner Betrachtung von Kult und Schönheit in Schrekers Opern auf Kokoschkas Seelenbilder und auf Schönbergs gemalte Hände, dem Realvollzug eines künstlerischen Topos in Schrekers Opernhandlung „Die Gezeichneten“. Ying-Chieh Chiu aus Berlin verdeutlichte an ausgewählte Radiokompositionen von Schrekers Schülerkreis um 1930 die Verkleinerung musikalischer Formen für das damals neue Medium des Rundfunks, wie auch in der 1920 von Georg Schünemann gegründeten Funkversuchsstelle.
Philippe Olivier, Generalsekretär des Richard-Wagner-Verbands International, widmete sich dem Gedanken, wie eine Aufführung des „Fernen Klang“ zu Lebzeiten Schrekers in Frankreich rezipiert worden wäre. In seiner Hypothese stützte er sich auf die Kulturgeschichte: als Fremder, wie als Jude wäre Schreker abgelehnt worden. Daran anknüpfend, beleuchtete Amaury du Closel aus Paris den Antisemitismus im Berlin der Zwanziger und frühen Dreißigerjahre.
Mathieu Schneider, der an der Strasbourger Universität lehrt und dramaturgisch auch für der Opéra National du Rhin arbeitet, hat den Kongress trefflich vorbereitet und organisiert. Die wissenschaftlichen Beiträge dieses Schreker-Symposions sollen auch in Buchform erscheinen.
Weitere Aufführungen „Der ferne Klang“: 21., 27. und 30. Oktober in Strasbourg, 9. und 11. November 2012 in Mulhouse.