Mit nacktem Unterkörper schwenkt eine Novizin schon beim Einlass des Publikums ein Weihrauchfass und umkreist lachend die vier fünfstöckigen Aluminium-Betttürme auf der Drehscheibe. Ihr werden später, wenn die Nonnen, mit umgehängten Pappschildern als „Hure[n] Gottes“ gebrandmarkt, auf ihre Hinrichtung warten, an der Rampe die Haare geschoren. Die hinzuerfundene Schwester Anne bleibt eine der wenigen Provokationen der eher zahmen Inszenierung von Calixto Bieito. Dennoch ein ausnehmend dichter und musikalisch hervorragender Premierenabend unter der Leitung von Stefan Blunier.
Francis Poulencs im Jahre 1957 an der Mailänder Scala uraufgeführte Oper ist zu einem Repertoirestück geworden, was wohl weniger an der Übertragbarkeit der Handlung des vom Komponisten nach einem Drehbuch von Georges Bernanos selbst verfassten Librettos liegt, als vielmehr daran, dass der Komponist eine für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich konservative Musik geschrieben hat, die einer Reihe von Frauenstimmen großartige vokale Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Auch die Handlung um die junge Adelige Blanche de la Force, die im Kreis der zunächst vor der Revolution geschützten, dann in deren Zuge hingerichteten Nonnen, Zuflucht sucht und am Ende freiwillig, in Solidarität mit der weiblichen Gemeinschaft, das Schafott besteigt, hat immer wieder Regisseure zu neuen Sichtweisen gereizt.
Nach dem stummen Vorspiel gibt es in der Berliner Produktion eine weitere Hinzufügung: zwar entgegen dem Programmzettel nicht „vor Beginn der Vorstellung“, aber als deren Beginn intoniert der Damenchor a cappella konzertant an der Rampe Francis Poulencs „Ave verum corpus“ (FP 154) makellos. Auf diese Weise am Anfang des Spielgeschehens eingeführt, ist der Chor in dieser Inszenierung, die auf die Sprechrollen ganz verzichtet, von Anfang an optisch integriert.
Außer geringfügigen Fahrten der Bettentürme auf der unverhängten Bühne erfolgen Veränderungen des Gesamtraums nur durch Drehung der Scheibe und durch wechselnde Lichteinsätze (Bühnenbild: Rebecca Ringst). Rechts und links vom Portal zeigen je sechs Bildschirme schwarzweiße Gesichts-Teilaspekte einiger Schwestern, die in der deutschen Textfassung von Peter Funk und Wolfgang Binal nicht mehr Karmeliterinnen, sondern Karmelitinnen heißen, und die auch – in Reibung zum Text des dritten Aktes – kein Habit tragen, sondern schlicht individuell, quasi privat, gekleidet sind (Kostüme: Ingo Krügler). In ihren Betten schnarchen, stöhnen und röcheln die Schwestern, wie deren Priorin mit Atemgerät auf dem Rollstuhl und dann kotbedeckt auf ihrem Totenbett.
Filmschnittartige Dramaturgie fördert breite Generalpausen und große Einschnitte zugunsten stummer Spielvorgänge, etwa die ausgiebige Waschung der entkleideten Leiche der verstorbenen Priorin an der Rampe. Die Pause für die Besucher liegt mitten im zweiten Akt, – eine Lösung, die allerdings bereits Poulenc ursprünglich erwogen hatte.
Bieito hat mit dem Ensemble der Komischen Oper Berlin merklich intensiv gearbeitet und einprägsame Charaktere geschaffen, die sich zu einer großen, paraklösterlichen Gemeinschaft fügen. Vorausgreifende Wahrheiten, wie die Erkenntnis, „Vielleicht ist die Angst in der Tat eine richtige Krankheit“, werden packend versinnlicht.
Anstatt sich in Zweierreihe aufzustellen, legen sich die Schwestern individuell als Kreuze auf den Boden. Ein besonders starker Moment ist es, wenn sich die Reihe der unisono das „Salve Regina“ singenden, zum Tode verurteilten Schwestern dezimiert und diese dann nicht unter dem Schafott, sondern individuell im Raum verteilt, also verloren, exekutiert zu Boden sinken.
Zauberhaft in Gesang und Spiel ist Maureen McKay als Blanche: sexy in ihrer geistigen Verwirrtheit, schlägt sich Blanche ihren Kopf an den Stangen des Bettes blutig und klettert später, in der rampenparallelen Bettenfront, die hier für ihr verlassenes Vaterhaus steht, ziellos herum. An kirchlichen Missbrauch mag man denken, wenn die alte Priorin (nahegehend in ihrer Intensität: Christiane Oertel) vor ihrem wenig nonnengemäßen Hinscheiden die Lieblingsschwester Blanche ausgiebig betatscht. Julia Giebel mimt eine schwangere Schwester Constance, die ihr mit facettenreichem Gesang aufwartendes Rollenspiel mit Erbrechen beginnt. An Stimmschönheit überbietet Erika Roos als neue Priorin die Gegenspielerin der gleichermaßen stimmgewaltigen Irmgard Vilsmaier als Mutter Marie. Auch Carin van Ojen als Mutter Jeanne und Maren Schäfer als Schwester Mathilde sollen hier nicht unerwähnt bleiben.
Zu den wenigen Männerrollen gehören zwei Kommissare (Hans-Peter Scheidegger und Thomas Ebenstein), die hier bereits im ersten Akt einen stummen Auftritt in Trenchcoats haben, um Blanches Vater Marquis de la Force (souverän stimmgewaltig Claudio Otelli) die Kehle durchzuschneiden. Dmitry Golovnyn als sein Sohn und Peter Renz als Beichtvater des Karmel tragen zur stimmlichen Hochwertigkeit des Premierenabends bei.
Jammern und Heulen überbrücken den Einschnitt nach dem zweiten Akt und dauern fort während des Vorspiels zum dritten. Der Partitur hinzugefügte Klagelaute sind hier auch parallel zu kantilenenartigem Gesang gestattet. Als Mikrofonstimme aus dem erleuchteten Zuschauerraum ergeht das Todesurteil über die Karmelitinnen.
Dirigent Stefan Blunier erweist sich als kongenialer Sachwalter von Bieitos szenisch dichter Lesart. Die erforderliche Spannung, über zahlreiche Einschnitte und echte, breite Pausen hinweg, vermag er stets zu halten. Neben der Zärtlichkeit und stellenweise sogar dem Humor, versucht Stefan Blunier der Partitur einige Annäherungen zum Verismo abzutrotzen. Und über den Bezug zur herben Schönheit á la Mussorgski, spannt Blunier mit dem trefflich disponierten Orchester der Komischen Oper Berlin den Bogen zurück zur Spätromantik, zum asketischen Tonfall des späten Hans Pfitzner und einer Morbidität á la von Max von Schillings.
Nur wenige Besucher verließen in der Pause das Auditorium; am Ende gab es heftigen und widerspruchslosen Beifall.
Weitere Aufführungen:
26., 30. Juni, 3., 9. 16. Juli, 8., 16., 29. Oktober und 3. November 2011