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Bizets "Carmen" am Wannsee. Foto: Lutz Edelhoff
Bizets "Carmen" am Wannsee. Foto: Lutz Edelhoff
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Fragwürdiger Menschenschmuggel: Bizets „Carmen“ bei den Seefestspielen Berlin

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Die im Vorjahr mit der „Zauberflöte“ neu eröffneten Seefestspiele Berlin im Strandbad am Wannsee erfuhren ihre Fortsetzung mit einer deutschsprachigen „Carmen“ in der Dialogfassung. In Partnerschaft mit Arte TV war seit März ein Classic-Pendant zu „Deutschland sucht den Superstar“ durchgeführt worden. Aber nicht die beim Casting „Open Opera“ aus 500 Bewerbern für die Hauptpartien gekürten Gewinner sangen die Premiere, sondern eine bereits lange zuvor feststehende Besetzung kreierte die Neuinszenierung von Volker Schlöndorff.

Bühnenbildner Volker Hintermeier hat vor dem Panorama des Wannsees einen großen spanischen Fächer aufgespannt, der auf zwei Ebenen für Auftritte genutzt werden kann. Aber der Aufwand an Mitwirkenden, den andere Open-Air-Festivals wie Bregenz und Verona für diese Oper betreiben, findet nicht statt. Neben der nur gut 30-köpfigen Chorformation agieren 14 Artisten und vier „Zigeunerkinder“. Verzichtet wird auf den Kinderchor. Der Neue Kammerchor Potsdam bewältigt seine Aufgabe redlich, wenn auch nicht immer mit gemeinsamen Abschlusskonsonanten.

Zu den packenden Momenten gehört beim ersten Erklingen des Schicksalsthemas der Auftritt von Lufthansa-Stewardessen, aber der ist wohl nicht reproduzierbar, zumal die Crew des Hauptsponsors, die verspätet gemeinsam im Publikum Platz nahm, nur am Premierenabend zugegen war. Kittel im identischen Gelbton tragen die Arbeiterinnen der Zigarrenfabrik, die darunter ihre schwarz kontrastierende Unterwäsche vorzeigen (Kostüme: Roy Spahn).

Arg redundant bis peinlich sind die von Mark Bogaerts choreographierten Umbau-, Pantomime- und Slapstick-Aktionen, bis hin zur Drei-Keulen-Jonglage (nicht etwa drei Zigarren!). Auf breite Publikumsakzeptanz setzen Anleihen beim Grips-Theater: so werden etwa am Ende des 2. Aktes zunächst drei Tafeln „SAU“ hochgehalten, die sich dann zum Hinweis „PAUSE“ ergänzen – einer für 30 Minuten angesetzten, dann aber auf 45 Minuten ausgedehnten Unterbrechung.

In der mit einem brennenden Fass angereicherten Schlucht seilen sich zwei Schmuggler von der Spitze des Fächers ab, einer davon mit umgeschnalltem, schreiendem Baby: das soll wohl an die vor einigen Jahren passierten Greuel der mit Rauschgift gefüllten Kinderleichen als menschliche Schmuggelcontainer gemahnen. Ein echter Container gibt hustende Menschen frei.

Auch historische Filme setzt Cineast Schlöndorff ein: Als Open-Air-Kino wird zum Gesang der Carmen in der Schänke auf Bettlaken der Schwarzweißstreifen einer Flamenco-Tänzerin, im Schlussakt der Stierkampf auf einen Container projiziert. Nicht beim "Victoria" des Stierkampfes, sondern erst mitten in der Applausordnung sprüht effektvoll Feuer aus dem Gestänge jenes Fächers, der den Bühnenraum zwischen Mauerdurchbruch und entflammbarem Zigeuner-Wohnwagen umspannt. Zur Ouvertüre aber gab es einen von zwei Darstellern gebildeten, abstrahierten Stier in einer metallischen Koppel, die anschließend als Gefängnis für Carmen dient.

Die üppig temperamentvolle Julia Rutigliano, stimmlich kraftvoll und mit unterschiedlichen Farbwerten, könnte eine blutvolle Carmen verkörpern, aber der Regisseur setzt auf Äußerlichkeiten und betont ihr kindliches Benehmen – „wie ein 6-jähriges Kind“, nennt es die „neue Dialogfassung der Seefestspiele Berlin“. Leider aber wird für die Gesänge keine neuere Übersetzung verwendet. Die heutigen Dialoge reiben sich mit der alten deutschen Übersetzung von Julius Hopp: Wenn die handelnden Personen sich singend plötzlich nicht mehr duzen und jene antiquierten Formulierungen wählen, die in historischen Aufnahmen sattsam tradiert sind, löst dies auch unbeabsichtigte Lacher aus. Carmens Habanera und Seguidilla sowie Escamillos Couplet erklingen in der Originalsprache, die Übersetzungen dieser drei Nummern sind – da es am Wannsee keine Übertitel gibt – im aufwändigen Programmheft nachzulesen.

Hans-Georg Priese, ein gefeierter Parsifal und Tannhäuser, leiht dem Don José heldische Töne, begleitet Carmens Tanzlied selbst mit Kastagnetten und fasziniert mit seinem A-cappella-Auftritt aus den hintersten Reihen des Publikums bis auf die Bühne. Leider zeichnet die Regie den jungen Soldaten etwas dümmlich, wohl weil er der Untergebene des Zuniga ist, den Ingo Witzke als Stotterer geben muss. Ein Macho ohne Zwischentöne ist der Escamillo von Michael Vier. Die meisten Publikumssympathien erntete am Premierenabend Victorija Kaminskaite als eine sehr sauber intonierende, wenn auch nicht akzentfreie Micaela.

Die kleineren Partien sind mit Vincenzo Neri (Morales), Anna Gütter (Frasquita), Emma Parkinson (Mercedes), David Pichlmaier (Dancairo) und Marcos Alves de Santos (Remendado) trefflich besetzt. Sigurd Karnetzki als Lillas Pastia spannt im Dialog den Bogen bis zu jüngsten Querelen um den Schauplatz dieses Festivals, mit einem Angriff auf die Senatsverwaltung.

Zu den Pluspunkten zählt das Orchester: die nur gut vierzigköpfige Kammerphilharmonie Potsdam lässt unter der musikalischen Leitung von Judith Kubitz die thematischen Verstrickungen akzentuiert erklingen, der junge Holger Reinhardt sorgt als Suggeritore im Publikum – anstelle zahlreicher Bildschirmmonitore – mit Taschenlampe für das akkurate Zusammenspiel mit der Bühne.

Die Gewinner des von sechs TV-Sendungen begleiteten Castings (Erica Brookhyser, Carmen; Christian Schleicher, Don José; Anna Pisareva, Micaela; Michael Bachtadze, Escamillo) singen am 17. August 2012 in der von Arte live ausgestrahlten zweiten Aufführung, die hierdurch den Rang einer „B-Premiere“ erhält. Vermutlich wird die Inszenierung des Filmregisseurs Schlöndorff in Detailaspekten auf dem Bildschirm sehr viel besser zum Tragen kommen als bei der witterungsbedingt nicht ausverkauften Premiere.

Weitere Aufführungen: 17., 18., 19., 23., 24., 25., 26., 30., 31. August, 1. und 2. September 2012.
Und am 17. August um 19:30 in Arte TV.

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