Wien - «Ich hätte die Tochter der Musiker sein können.» Die 26-jährige Polin Marta Gardolinska erinnert sich noch genau an ihren Auftritt im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins vor dem 80-köpfigen Radio-Symphonieorchester Wien. Zum Abschluss ihres Studiums an der Wiener Musikhochschule stand sie am Pult und dirigierte das «Capriccio espagnol» von Nikolai Rimski-Korsakow. Von einem solchen Auftritt in einem der edelsten Musiksäle der Welt träumt jeder Dirigent - und vor allem jede Dirigentin.
Die Führungs- und Machtposition am Pult ist immer noch eine fast reine Männerwelt. «Der grauhaarige, große, hellhäutige Dirigent wird als Gott im Frack verherrlicht», blickt die Musikwissenschaftlerin und Autorin Anke Steinbeck auf teils noch aktuelle Stereotype. Von den 130 Orchestern in Deutschland mit Chefdirigenten hätten nur ganz wenige eine Frau als Chefin. Pionierarbeit hat Simone Young (54) geleistet: Von 2005 bis zum Saisonende 2015 leitete sie die Hamburger Staatsoper als Opernintendantin und Generalmusikdirektorin.
Generalmusikdirektorinnen gibt es auch am Theater Erfurt (Joana Mallwitz) und der Staatsoper Hannover (Karen Kamensek). «In 99 Prozent der Fälle werden die Orchester von Dirigenten geleitet», sagt Steinbeck. Frauen würden teilweise noch eingeschätzt als «zickig, durchsetzungsschwach, und als Menschen, die alles persönlich nehmen», so die Autorin eines Buchs über Dirigentinnen.
Solche Vorurteile können Gardolinska nicht bedrücken. Neben Kompetenz setzt sie auf Einfühlungsvermögen - nicht nur bei der Musik, sondern auch gegenüber den Musikern. «Partnerschaftlich auftreten, motivieren - da sind die Frauen sehr gut, verbinden positive Energie mit Sachverstand.» Beim Schlussapplaus nach der 1. Symphonie von Johannes Brahms im Wiener Konzerthaus rückt Gardolinska die Musiker in den Mittelpunkt und tritt bewusst etwas zur Seite. Für sie ist wegen seiner inspirativen Kraft und seiner perfekten Technik Carlos Kleiber «der beste Dirigent aller Zeiten».
Rund 140 Stücke umfasst das aktuelle Repertoire der charmant-ambitionierten Nachwuchs-Dirigentin. Etwa 20 Orchester hat sie bisher dirigiert. Sie schwingt mit einer Mischung aus Präsenz, Aufmerksamkeit und Spannung den Taktstock. Die Reaktionen der Zuhörer auf eine Frau am Pult seien eher positiv, meint sie. «Das Publikum ist neugierig.» Auch die Orchester seien oft schnell zu überzeugen. «Das Problem sind die anderen Dirigenten und teils die Professoren in den Hochschulen», meint die 26-Jährige.
Ihre musikalische Liebe gehöre nicht zuletzt polnischen Komponisten, die selbst in ihrer Heimat kaum aufgeführt würden, klagt sie. Zygmunt Noskowski (1846-1909), Karol Szymanowski (1882-1937), Ignacy Feliks Dobrzynski (1807-1867) - deren Stücke würde sie gerne mit Orchestern zusammen erarbeiten. «Es gibt so viel mehr als Chopin.» Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Der Arbeitsmarkt für aufstrebende Dirigenten ist extrem eng.
Zu den raren Erfolgsgeschichten gehört die US-Amerikanerin Marin Alsop. Der heute 58-jährigen gelang 1989 als Schülerin von Leonard Bernstein der Durchbruch. Heute ist sie die erste Dirigentin an der Spitze eines großen Orchesters in den USA (Baltimore Symphony Orchestra).
Widerstände hat die Australierin Simone Young (54) bei ihren ersten Deutschland-Auftritten erlebt. Young habe sich zu Beginn durchaus abfällige Bemerkungen über ihre Schuhe mit Absätzen oder andere frauenfeindliche Sprüche gefallen lassen müssen, erinnert sich Steinbeck. «Ihre Bestellung an die Spitze eines großen Orchesters 2005 war ein Paukenschlag.»
Young selbst steht dem Maestro-Image eines Unantastbaren, wie es einst Herbert von Karajan war, zwiespältig gegenüber. «Wenn man sich anschaut, wie Dirigenten noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit Orchestern umgegangen sind - da würde man heute schnell vor Gericht stehen, und das ist auch richtig so. Es steckt viel Mythos in diesem Beruf, und zu viel davon darf man auch nicht wegnehmen, weil das Publikum ihn braucht», sagt sie in einem Interview der «Österreichischen Musikzeitschrift».
Die Australierin freut sich über die immer größer werdende Schar an Dirigentinnen. «Es gibt eine neue Generation junger Frauen, die ihren Weg gehen werden», sagte sie kürzlich im dpa-Interview. «Ich glaube, in jedem Beruf, in dem es ungewöhnlich ist, eine Frau zu sehen, muss es immer erst eine Frau geben, die die Tür aufmacht und die zeigt, dass eine Frau durch diese Tür gehen kann. Und wenn sie einmal durch diese Tür gegangen ist, dann bleibt die Tür offen für die anderen.»
Inzwischen mehrten sich die guten Gelegenheiten für den männlichen wie weiblichen Nachwuchs, auch mit großen Orchestern zusammenzuarbeiten, sagt Steinbeck. «Die immer häufigeren Familien-Konzerte sind ein Sprungbrett. So können sie den Fuß in die Tür bekommen.» Die Konzerte sollen auch junge Menschen für die Klassik begeistern. In diesem Sinne sind die aktuellen Pläne von Gardolinska. In Polen baut sie gerade ein eigenes Ensemble auf, um frischen Wind in die Szene bringen. «Wir wollen mit neuen Formaten näher an die jungen Leute.»