„Notwendig sind nicht neue Museen, Opernhäuser und Uraufführungen. Notwendig ist, die Verwirklichung der Träume in Angriff zu nehmen. Notwendig ist die große Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Notwendig ist die Veränderung des Menschen und das heißt: Notwendig ist die Schaffung des größten Kunstwerks der Menschheit: die Weltrevolution.“
Ein Satz, ein Textblock wie ein altassyrisches Keilschrift-Monument. Und ein Vermächtnis. Eins, das Hans Werner Henze 1968 im Streit über die Namensgebung der Kunsthalle Bielefeld aufgesetzt und zu dem er sich jüngst noch einmal ausdrücklich bekannt hat (nmz 10/10). Und das nun überraschend wiederkehrt im Editorial des Programmbuchs zu „das henze-projekt – neue musik für eine metropole“. Wie das, fragt man sich und weiß eigentlich nicht mehr, worüber man sich mehr wundern soll. Darüber, dass heute, wo der Sieg der Freiheit über den Kommunismus seinerseits Geschichte ist, sich niemand mehr wundert über einen Satz wie diesen oder darüber, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, als ein Statement dieser Art über kurz oder lang zur Exkommunikation führen musste – wegen geistiger Kollaboration mit dem Feind.
Und jetzt dies. Die ehrgeizige Werkschau eines Gegenwartskomponisten adelt dessen politisches Outing und legt damit eine Fährte. Zielstrebig führt sie zu einem Vermächtnis, das (um aus aktuellem Anlass noch dies anzufügen) die Existenz von „Museen, Opernhäusern und Uraufführungen“ nur scheinbar relativiert und als Berufungsinstanz ziemlich ungeeignet wäre für irregeleitete Kommunalpolitiker, die im noch ganz frischen 21. Jahrhundert die Abrissbirne gegen ihre eigenen Opernhäuser in Stellung bringen. Dabei (soviel zumindest wäre von Henze wie vom Henze-Projekt zu lernen) werden sie alle gebraucht, sind unverzichtbar – auch das im schönen Bonn gelegene. Weshalb? Damit das Publikum ein Event hat, der Theaterdirektor seine Daseinsberechtigung und der Künstler sein Auskommen?
Folgen wir der Antwort, die Henze nahelegt, geht es um die „Träume“, die dort ausgestellt, aufgeführt, in Szene gesetzt werden und die sich mitnichten auf Schäume reimen, die vielmehr der „Verwirklichung“ harren, die „in Angriff“ zu nehmen sind. Und was würde dort ge-, respektive erträumt? Tatsächlich nicht weniger als die „große Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen“. Dass solches gegenstandslos geworden sein soll, passt kaum zum Stoff, der in „Museen, Opernhäusern und Uraufführungen“ (noch immer) ausgestellt, aufgeführt, in Szene gesetzt wird. „Gisela!“ zum Beispiel. Unter den Träumen, die Henze seine Oberhausener Heldin hat träumen lassen, ist der utopische, der vom Glück, vom gelingenden Leben, unabgegolten. Was natürlich keine Überraschung ist. Dabei war „Gisela!“ selber, Henzes erklärtermaßen letzte Oper (eigentlich ein „Operchen“), auch keine. Eher schon die Konsequenz, wie der Komponist und sein musikalischer Oberspielleiter Steven Sloane den Zusatz im Titel „mit Jugendlichen“ haben Praxis werden lassen. Mit Folkwang Tanz- und Theaterstudenten als superbe Commedia-dell’arte-Artisten, mit Schülern und Junginstrumentalstudierenden im Orchester (Studio musikFabrik – Jugendensemble des Landesmusikrats NRW) und mit in jeder Hinsicht glänzenden Dortmunder Chorakademieknaben. Wenn das kein Fingerzeig ist. Zum Resumee eines schweifenden Wahrnehmungsverhaltens in den Henze-Feldern eines ganzen Jahres gehört insofern auch die Erkenntnis, dass wir in HWH einen wahren Education-Pionier vor uns haben – selbst wenn dessen eigene Beiträge wie etwa „Pollicino“ auch bei der Wiederbegegnung blass geblieben sind. Auch ein anderer Fingerzeig, vom Dirigenten Peter Ruzicka gegeben, weckte hingegen eher die Zweifel, indem dieser nämlich den Orchesterkomponisten Hans Werner Henze mit – ausgerechnet – Richard Strauss’ „Metamorphosen“ kombinierte. Ein doch recht kontroverser Versuch, Henze aufs Podest des Übervaters zu schieben.
Erfreulich hingegen der Anspruch und die Verve, womit die RUHR.2010-Projekt-Initiatoren ihre Werkschau in die Öffentlichkeit gestellt haben. Das muss man ja erst einmal hinbekommen, fünfzig Veranstalter unterschiedlichster Couleur in der Großregion Ruhrgebiet auf ein Thema einzuschwören; sie dazu zu bringen, Termine zu koordinieren einzig mit dem Zweck, ein Programm zu generieren, das größer ist, als ein einzelner Kopf fassen kann. Im Ganzen gut und gern zweihundert Henze-Veranstaltungen, die binnen Jahresfrist zwischen Duisburg und Dortmund, Essen, Oberhausen, Gelsenkirchen und Hagen über die Bühne gegangen sind. Nicht immer und in jedem Fall, aber hin und wieder standen diese doch erfreulich quer zum gepflegten Populismus der Kulturhauptstadt, die für viele mit singenden Fußballstadien und Partys auf stillgelegten Autobahnen verbunden bleiben wird. Demhingegen hatte das Henze-Projekt doch den Charme, von sich aus zu erinnern an jene neuralgische Schnittstelle, wo Kunst und Leben, genauer: Kunstwerk und Zeitbewusstsein zusammentreffen und sich aneinander reiben. Was nicht jeder mag, weshalb so manche Produktion auch das Schicksal ereilt hat, in ihrer eigenen Ausstattungsroutine zu ersticken, vor lauter Regieeinfallsbäumen den Henze-Wald nicht mehr zu sehen. Dabei steht der doch ziemlich groß da, kleidet sich in alles andere als Einheitsschwarz. Und schweigen tut er, wie gehört, auch nicht.
Was nun aber in guter Erinnerung geblieben ist, sind vor allem jene Produktionen, die ihren Henze auf Kunsternst, Humanität, politisches Ethos hin gelesen haben. Sei es in den freien Produktionen und Kooperationen wie dem Kantoreiprojekt „Babel“, in einem kristallin geschliffenen „Idioten“ am Prinz Regent Theater Bochum, einer quicklebendigen Monteverdi-Ulisses-Rekonstruktion oder in einer wunderbaren „Voices“-Tanz-Stunde, die Bernd Schindowski am Gelsenkirchner MIR hingezaubert hat. Ohne Vordergründigkeiten, Krawall, Illusionsmalerei. Wie es sein soll. Eine Region verbeugt sich vor einem Komponisten. Wenn das Schule machen sollte, wären wir weiter.