Welcher Dirigent kann schon von sich sagen, mitten in einem Premieren-Dirigat mit Hühnerbeinen beworfen worden zu sein? Das und wütende Ablehnung, aber eben auch differenzierte und tiefempfundene Verehrung hat Michael Gielen in seiner langen, vielfältigen Karriere erlebt – Gründe genug für eine Würdigung zum 90.Geburtstag von Wolf-Dieter Peter.
2010, „spät“ und „endlich“ hat Michael Gielen ihn bekommen, den aller Ehren werten Ernst-von-Siemens-Musikpreis. Da konnten er und alle ernsthaften Musik- und Musiktheaterfreunde auf eine lange Karriere zurückblicken. Lebensweg, Laufbahn und Einflüsse waren fast durchweg von deutschen Implikationen geprägt: 1940 bis 1950 vom Exil in Argentinien mit den Prägungen durch Fritz Busch und Erich Kleiber; als Opern-Korrepetitor vom typisch Wienerischen Nachkriegs-Musikleben mit den Etiketten „Karajan, Böhm, Krauss“, aber auch der Begegnung mit Dimitri Mitropoulos; von der seriösen Arbeit abseits des bundesrepublikanischen Starrummels in Stockholm, Brüssel und Amsterdam; in der Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre schrieb Gielen dann 1965 Operngeschichte – mit der Kölner Uraufführung von Berns Alois Zimmermanns „Die Soldaten“, die zunächst als „unspielbar“ galten und Gielens Ruf als singulärer Könner abseits ausgetretener Repertoirepfade festigten.
Im Siegeszug neuer analytischer Opernregie als „Musiktheater“ setzte sich dann die Oper Frankfurt an die Spitze: die Jahre 1977 bis 1987 gelten bis heute als die „Ära Gielen“, mitgeprägt von Chefdramaturg, später Operndirektor Klaus Zehelein und durch die Regie-Taten von Hans Neuenfels und Ruth Berghaus – maßstäbliche Aufführungen von „Aida“ (mit den Hühnerbeine werfenden Gefangenen im furios überdrehten und als lärmende Staatsmusik entlarvten Triumphmarsch), „Les Troyens“, „Parsifal“, dem „Ring des Nibelungen“ oder die Wiedergewinnung des gleichsam vergessenen Franz Schreker und seinem zeitlos gültigen Musikdrama „Die Gezeichneten“ „u.v.a.“.
Gielens Musizier-Maximen „Deutlichkeit, Transparenz, Formgefühl“ waren zu erleben und entschlackten auch in den Konzerten viele Werke getreu dem Mahlerschen Diktum „Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche“. Dieses Bewahren des Feuers und eine aus Intellektualität, gesellschaftspolitisch kritischer Einstellung und Wirkungsneugier entspringende Novität, die „musikalische Montage“, prägten Michael Gielens weiteres Wirken in Cincinnati, bei der Berliner Staatskapelle und vor allem dann bis 1999 als Chefdirigent des inzwischen fusioniert genannten SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Beispielhaft kann dafür ein frühes Stuttgarter Konzert stehen, in dem er Beethovens 9.Symphonie mit Schönbergs „Überlebendem von Warschau“ kombinierte. Darin und weiterhin manifestieren sich zwei maliziös herausfordernde Gielen-Grundsätze: „Für die Musik darf man ruhig das Gehirn bemühen“ – und: „Musik bietet die Möglichkeit, der Wahrheit zu begegnen. Und die ist nicht immer angenehm.“
Erfreut kann der Jubilar Gielen feststellen, dass viel von seinem Wirken in einer auf 10 Boxen angelegten großen CD-Edition fixiert ist. Dieser nachhörbare Interpretationskosmos belegt die Charakteristik von Hans-Klaus Jungheinrich: „Michael Gielen ist einer der wenigen Dirigenten, die das Musikleben nicht bedient, sondern maßgeblich mitgestaltet und verändert haben.“ Dafür ist „Danke!“ und „Glückwunsch!“ zu sagen.