In der Potsdamer Erklärung des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) von 2014 heißt es: „Musikschule der Zukunft und Zukunft der Musikschule sind inklusiv. (…) Musikschulen verbinden Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, wirken gemeinschaftsstiftend, generationen- und kulturübergreifend.“ An vielen bayerischen Musikschulen wird bereits inklusiv gearbeitet – sei es im Unterricht mit Menschen mit Behinderung, mit Menschen mit Migrationshintergrund, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen oder Senior/-innen.
Was möglich ist, wenn Menschen mit und ohne Behinderung kompromiss- und vorbehaltlos gemeinsam musizieren, zeigt immer wieder aufs Neue die Band „Vollgas“. Die Musikerinnen und Musiker kommen alle von der Musikschule Fürth, wo Inklusion seit Jahrzehnten ganz pragmatisch gelebt wird. Die unbändige Spielfreude der Band und ihr großes handwerkliches Können und professionelles Auftreten begeistert das Publikum lokal bis international. Nach zahlreichen Konzertreisen (Tschechien, Usedom, Bodensee) folgte die Band 2016 und 2018 dem Ruf der International Society for Music Education (ISME) und gastierte auf deren Kongressen in Glasgow, Edinburgh und Salzburg. Profimusiker – u. a. die Thilo Wolf Big Band oder die Welt-Musikband Quadro Nuevo – arbeiten gerne mit dem inklusiven Ensemble zusammen. Für die nmz erinnerten sich Robert Wagner, Leiter der Fürther Musikschule und Mit-Initiator des Vollgas-Projekts, Carolin Heuser, Saxophonistin, und Thilo Wolf, Bandleader, an die Kooperation von Vollgas mit der Thilo Wolf Big Band.
Zwei Welten treffen aufeinander – Inklusion ist keine Vision!
Robert Wagner erinnert sich an das Konzert der inklusiven Band „Vollgas Connected“ mit der Thilo Wolf Big Band
Die Fusion sollte im Rahmen des offiziellen Festaktes des Fürther Stadtjubiläums „200 Jahre eigenständig“ am 17. November 2018 im Stadttheater Fürth über die Bühne gehen. Profimusiker, darunter die Elite der deutschen Big Band Szene, treffen auf Menschen, die in den Dambacher Werkstätten der Fürther Lebenshilfe arbeiten und ihr musikalisches Handwerk in der Musikschule Fürth erlernten. Zwei Welten treffen aufeinander.
Die erste Begegnung der beiden Bands fand am Nachmittag des Konzertes statt. Soundcheck, kurze Anspielprobe …
Doch noch einmal kurz zurück zum Vorabend des Geschehens. Gegen 17 Uhr lieferte ich, wie mit Thilo Wolf vereinbart, die Instrumente der Band Vollgas im Theater an. Die Techniker des Theaters halfen, meinen Bus auszuladen. Freilich nicht ohne mich auf die – ihrer Meinung nach – völlig irre Idee hinzuweisen, zusätzlich zu einer Big Band 20 weitere Musiker auf der Bühne zu platzieren. Der Auf- und Abbau der Vollgas-Band müsse mitten in der Show – ohne Vorhang – vonstatten gehen, wie könne man einen solchen Wahnsinn planen? Riesenprominenz sei angekündigt, der Innenminister und und und. Irgendwie war ich den Technikern fast dankbar, denn meine Angst vor der musikalischen Kamikaze-Aktion der Fusion wurde durch die Bemerkungen halbiert. Meine Verantwortung für das sich abzeichnende Organisationsdesaster beanspruchte nunmehr der Angst zweite Hälfte.
Auf der Bühne füllten die aufgebauten Orchesterpulte die Podeste und diese die gesamte Bühnenbreite. Die Big Band musste als verkabelter Klangkörper autark bleiben und es gab nur eine Chance für uns: Wir mussten uns zwischen der Markierung des Eisernen Vorhanges und der ersten Reihe der Big Band einrichten. Thilo Wolf war da und die Tontechniker. Thilo hatte zwar auch keine Vorstellung davon, wo wir stehen sollten, strahlte aber Ruhe und Vertrauen aus und ließ sich durch die Bemerkungen der Techniker in keiner Weise beunruhigen. Ich holte einen Zettel und Farbstifte aus meiner Tasche und zeichnete die, für mich, einzig sinnvolle Aufstellung der Vollgas-Musiker mit ihren Instrumenten, Mikrofonen und Verstärkern auf das Papier.
Thilo und die Tontechniker waren einverstanden. Ich ging. In der Nacht besuchten die Theatertechniker mein Schlafzimmer und wiederholten und wiederholten das Wort „Wahnsinn, Wahnsinn …!“
Endlich dann, Samstag. Ich war zwei Stunden vor Vollgas im Theater und hörte der Big Band bei deren Probe zu. Dass es unglaublich cool klang, dass jeder der Musiker die gerade ausgeteilten Noten begnadet vom Blatt spielte, dass alles unglaublich professionell ablief … beruhigte mich … nicht.
Nacheinander trafen die Musikerinnen und Musiker der Band Vollgas ein. Meine Kolleginnen und Mitleiterinnen der Band, Uschi Dittus und Daniela Holweg, nahmen die Musiker an der Pforte in Empfang. Alle waren da (die jahrelange Erfahrung, dass dies auch anders hätte sein können, drittelte – siehe oben – mein Angstpotenzial.)
Die Big Band machte Probenpause und ich bereitete unsere Aufstellung vor. Nach und nach schickten, wie verabredet, die Kolleginnen die Musiker auf die Bühne. Alle nahmen ihre Plätze ein und verkabelten ihre Instrumente. Jetzt wurde es spannend. Nein, nicht das Musizieren, vielmehr ließen wir – kaum dass alle am Platz waren – die Band komplett wieder abbauen und stoppten die Zeit. Und aufbauen, und stoppten die Zeit. Jeder Handgriff musste sitzen. Jeder hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Manche der Musiker ohne Behinderung kümmerten sich um die Musiker mit Behinderung, andere schleppten die Verstärker von der und auf die Bühne. Die Theatertechniker halfen und … entspannten sich. Zweieinhalb Minuten, da würde ja die An- und Abmoderation länger dauern! Alles gut. Die Musiker der Big Band schlenderten während unserer Aktion unbeeindruckt herein, Profis eben, und nahmen hinter ihren Pulten Platz. Ich sprach unterdessen mit Thilo und empfahl ihm, Reimund, unserem Vollgas Schlagzeuger, die Verantwortung für das Tempo, also für das Einzählen der Band, zu überlassen.
Thilo schenkte Reimund und damit mir das Vertrauen und Reimund zählte routiniert ein. Die zwei Klangkörper setzten ein und noch bevor das Vorspiel zu Ende war, verschmolzen die Musiker im Anzug und die mit den T-Shirts zu einem Ganzen. Es war abzusehen, dass alles gut gehen würde. Reimund und sein Schlagzeugkollege aus der Big Band groovten, wie man besser nicht grooven kann. Jeder Schlag absolut synchron. Jeder Break klang, als ob nur einer spielen würde. Nur eben besser, mit doppeltem Druck.
Wir spielten jedes Stück einmal (!) durch und hatten dann Pause. Am Abend lief alles wie geschmiert. Gut acht Monate hatten wir uns (neben nicht weniger bedeutenden Auftritten) auf die Begegnung vorbereitet und studierten auf der Grundlage des Big Band Arrangements unsere Stimmen ein. Für manche wurde manche Stelle notenmäßig ausgedünnt. Andere Musikschüler spielten die Originale. Jede einzelne Stimme war kompatibel mit den anderen. Jeder Musiker war ein stimmiger Teil des Ganzen.
Nach dem Konzert berichtete ein Theatertechniker völlig begeistert, dass er nur auf die beiden Schlagzeuger geblickt hatte: „Der Profi schaute ständig auf seine Noten und der Behinderte hatte nicht einmal Noten und beide spielten genau auf den Punkt, unfassbar …!“
Im Foyer äußerten viele Zuschauer, wie klasse sie die Menschen mit Behinderung fanden, welche Freude sie ausstrahlten. Richtig, dachte ich bei mir und unser Musikschulmotto, „weil Können Spaß macht“, schoss mir durch den Kopf. Die Zuschauer hatten recht: Freude, Lebensfreude strahlte aus den Gesichtern auf der Bühne. Mehr noch – sie verteilte sich von dort aus im Theatersaal und begleitete die Besucher nachhause. Entscheidend aber ist die Erkenntnis, dass es das individuelle Können und die Teamfähigkeit der Musiker war, die letztendlich diese Freude begründeten.
Viele Menschen – Lehrkräfte, Eltern und Betreuer, vor allem aber die Musiker selbst – trugen entscheidend dazu bei, dass dieser Abend so locker und gleichzeitig so perfekt über die Bühne ging. Musikschule ist Teamarbeit. Menschen machen Musikschule.
Stimmen zum Konzert
- Supergut – mein Glückwunsch. IHR lebt es einfach vor!
Brigitte Riskowski, Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen · - Ich gratuliere ganz herzlich … schön, dass sich eure wertvolle Arbeit inzwischen weit herum gesprochen hat!
Dr. Beate Hennenberg, Institut für Musikpädagogik, Wien · - Herzlichen Glückwunsch, eine super Aktion und ein tolles Video, einfach ein Highlight.
Rainer Buschmann, Fachsprecher Inklusion (NRW), Musikschule Bochum · - In vielen kleinen, schwierigen Schritten, unbeirrt – seit Jahrzehnten auf dem Weg Richtung Inklusion. Ganz herzlichen Glückwunsch! Ich bin stolz auf euch und alle, die tatkräftig, vereint und mit ihren ganz unterschiedlichen Möglichkeiten zum Erfolg beitragen!
Hannelore Schreiber, 2. Vorsitzende Lebenshilfe Fürth - Wahnsinn – absolute Gratulation – ich hab gar nicht genügend Hüte, die ich ziehen könnte – es ist schön, so ein Vorbild zu kennen. Deine unbeirrbare Art, deine Haltung für die und mit den Menschen zu leben und sie zu bewegen, ist bewundernswert.
Volkmar Weinhold, Seminarrektor · - Wunderbar! Herzerwärmend!
Cordula Reiner-Wormit, Musiktherapeutin, VdM Fachausschuss Inklusion - WAAAAAHNSINN!! Das ist irre gut! Herzlichen Glückwunsch an Euch Alle!
Christiane Joost-Plate, Landesfachsprecherin Inklusion Niedersachsen · - Einfach nur geile Mucke! Danke für euer Vorbild.
Stefan Birk, Musikschullehrer, Vaterstetten · - Das Video ist wirklich ein Höhepunkt an qualitätvollem gemeinsamem Musizieren, so viel gute gemeinsame Energie.
Helga Neira, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien · - Das ist eine GROSSE FREUDE!!! Danke für die wundervolle Arbeit … mit Liebe, Herz und Verstand!
Harald Rüschenbaum, Leiter des Landes-Jugendjazzorchester Bayern · - Der Film macht ja gleich süchtig! Gratulation!
Prof. Dr. Irmgard Merkt, Universität Dortmund · - Euer Applaus, 38 hervorragende Musiker, der Applaus soll die Dankbarkeit zeigen, wie froh wir sind, dass wir Euch hier haben, in Fürth!
Volker Heißmann, Intendant Comödie Fürth, Moderator des Festaktes zum Stadtjubiläum Musikschule Fürth
YouTube Channel: Thilo Wolf Big Band meets Vollgas Connected
Fusion der Band Vollgas Connected und der Thilo Wolf Big Band
Freude vermehrt sich, wenn man sie teilt
... die Musikerin Carolin Heuser erinnert sich
Ich studiere an der Hochschule für Musik Würzburg Saxofon und bin Mitglied im Landes-Jugendjazzorchester Bayern. (Gefühlt) Mein Leben lang hatte ich Instrumentalunterricht, erst an der Musikschule Erlangen, dann an der Musikschule Fürth. Im Stadttheater saß ich aber als Musikerin von Vollgas Connected, einer Musikschulband, bei der ich auch als Musikstudentin immer noch mitspiele. Und das vor allem, weil es mir Spaß macht. Ich habe Spaß daran, mich in dieser Band selbst fordern zu können, jetzt z.B. die schnellen Läufe der Big Band Stimmen für die Thilo Wolf Konzerte zu üben und bei anderen Gelegenheiten neu erworbene Konzepte in improvisierten Soli anzuwenden. Dazu kommt aber noch eine andere Art der Freude. Ich erinnere mich beispielsweise, als Vollgas ein neues Stück zum ersten Mal probte, ein Stück, an dessen Notenmaterial-Erstellung ich beteiligt war.
Die Vollgas Musiker spielten das Lied sozusagen vom Blatt, der Stolz darüber und die Freude waren in ihren Gesichtern abzulesen – und in meinem sicher auch, denn durch die sorgfältige und individuelle Anpassung der Noten trug ich eine Mitverantwortung an ihrem Erfolg. Zuständig für das gute Gelingen unserer Konzerte waren neben der aufwendigen Vorbereitung der Mitglieder von Vollgas Connected genauso auch die Thilo Wolf Big Band und darüber hinaus noch weit mehr Menschen als auf der Bühne zu sehen waren. Zuständig waren aber auch Institutionen, wie die Musikschule, weil nur sie – sicher wieder verknüpft mit Kontakten einzelner Menschen – solche Projekte auf den Weg bringen können. Je stärker und kompetenter dabei die Institution auftritt, desto mehr Vertrauen kann sie aufbauen und desto mehr kann sie ermöglichen. Die Fusion aus Vollgas Connected und der Thilo Wolf Big Band wurde möglich, weil Thilo Wolf, als Schülervater, die Arbeit der Musikschule schätzen lernte und dadurch, dass die Stadt Fürth und das Stadttheater der Musikschule als Institution vertrauen. Vertrauen machte die Fusion möglich.
Was an diesem Wochenende wieder einmal überdeutlich wurde: der Spaß am Musik machen hängt nicht davon ab, ob man Profi-Musiker oder Musikschüler ist, ob man eine Behinderung hat oder nicht, ob man Noten liest oder auswendig spielt, ob man jeden Tag übt oder – wenn überhaupt – einmal in der Woche …
Aber was ist dann die Variable, mit der Spaß zusammenhängt? Sicher gibt es da mehrere, zum Beispiel, ob einem die Musikrichtung gefällt, die man spielt. Eine universell geltende ist aber die, dass man das, was man tut, als richtig erlebt. Wir Menschen machen ja auch im alltäglichen Leben ungern Dinge, die „sich falsch anfühlen“, warum soll es in der Musik anders sein? Das basiert auf Erfahrungen bzw. Regeln, die individuell unterschiedlich sein können. Für ein gelingendes Miteinander ist also wichtig, dass der eigene Beitrag auch von allen anderen Beteiligten (Musiker plus Publikum, Techniker, Veranstalter …) als richtig empfunden wird.
Richtig angefühlt hat sich die Fusion aus Vollgas Connected und der Thilo Wolf Big Band für viele Menschen. Und warum? – weil sie sich freuten! Der eine Bühnentechniker vielleicht über die Leistung des Schlagzeugers mit Behinderung, der andere über den reibungslosen Auf- und Abbau. Die Big Band-Musiker über eine erfrischende Abwechslung in ihrem Profi-Alltag, Thilo Wolf über den erfolgreichen Verlauf dieses spannenden Vorhabens … Ich habe mich an dem Wochenende über vieles gefreut, beispielsweise über meine eigene Leistung, das Üben der schnellen Läufe hat sich gelohnt! Dann aber auch über das synchrone Spiel der Schlagzeuger und manch ein grinsendes Gesicht eines Vollgaslers; über den ein oder anderen Kommentar eines Big Band Musikers hinter uns und die Tatsache, mit diesen Profis zusammen zu spielen; über den Applaus und das Lob hinterher. Ich freute mich, weil auch andere sich freuten und weil ich erleben durfte, dass ich zu deren Freude einen kleinen Beitrag leisten durfte. Schon oft konnte ich das in der Zeit mit Vollgas Connected erleben, und kann aus der Erfahrung sagen: Das sollte man sich nicht entgehen lassen!
Fusion der Band Vollgas Connected und der Thilo Wolf Big Band
Inklusion – Basis menschlichen Zusammenlebens
... Thilo Wolf erinnert sich:
Man muss ehrlich sein. Ein bisschen fragt man sich schon, wie wird das wohl werden, wenn eine inklusive Band zur ersten Probe auf das eigene Orchester trifft. Das Repertoire von „Rock The Big Band“ ist anspruchsvoll und fordert auch professionelle Musiker. Andererseits, man hat ja genügend Erfahrung mit „Cross-Over-Projekten“ unterschiedlichster Couleur und man weiß, dass solche Projekte immer spannend und erfüllend sind, wenn man sie ernsthaft angeht.
Und so war es mit der Band Vollgas. Bereits die erste Begegnung auf der Bühne war ein großes „Hallo“ und eines ist klar, wenn Musiker auf Musiker treffen, entstehen sofort Fröhlichkeit und Wärme. Grenzen und Ausgrenzung gibt es nicht, was gerade in der heutigen Zeit, in der Vorurteile wieder salonfähig zu werden scheinen, nicht deutlich genug betont werden kann. Das Kribbeln war spürbar, als Vollgas-Drummer Reimund Gerbl die Großformation von am Ende rund 40 Musikern einzählte. Und dann ging es los. Beide Bands rockten zusammen ab, dass es eine regelrechte Freude war. Und spätestens, wenn man die Interaktion – musikalisch wie menschlich – zwischen meinem Drummer Matthias Meusel und Vollgas-Drummer Reimund beobachtete, dann ist völlig klar, dass es zu Inklusion keine Alternative gibt und dass sie die Basis menschlichen Zusammenlebens ist.
Für mich eine ganz tolle Erfahrung. Sicher nicht die letzte.