In einem Festakt in Stuttgart soll am 16. November der Autor Rainald Goetz den Schiller-Gedächtnispreis erhalten. Für die Programmplanung war Johannes Kreidlers live-Version der „Charts Musik“ vorgesehen. Ein ziemlich komplexes Werk! Es setzt den Verlauf von Aktienkursen in Töne um. Abbild-Theorie pur. Nun erhielt Kreidler über das Planungsbüro den Hinweis aus dem Staatsministerium für Kunst und Kultur (von GRÜNEN besetzt), dass man sich offenbar etwas anderes wünsche mit dem Hinweis, dass das Stück zu „progressiv“ sei. Und nein, es handelt sich um keine Nachricht aus der taktlos-Redaktion.
Der BadBlogger Alexander Strauch kommentierte diesen Vorgang:
„Dies setzt das gesellschaftskritische Wirken von Goetz und Kreidler auf eine absurde Art und Weise herab, wo man doch gerade Goetz für seinen gesellschaftskritischen Mut ehren möchte. Und es ist eines Friedrich Schillers absolut unwürdig. Sollte man den Preis nicht besser ganz aus Baden-Württemberg auslagern, wie Schiller selbst aus dem Ländle floh? Die Ungeschicklichkeit v.a. des Ministeriums Bauer in kulturellen Dingen ist so schillernd, dass dieses peinliche i-Tüpfelchen Grund genug für einen Personalwechsel an der Spitze des Kunstministeriums sein sollte.“ (Quelle)
Auch auf seiner Facebook-Seite sind die Kommentare zu dem Vorgang sehr eindeutig. Die Komponistin Sarah Nemtsov:
„Progression - Gegenteil: Regression, hier plus Repression. Häufiges Duo. Dagegenhalten.“ (Quelle)
Arno Lücker, selbst Grüner und Komponist, ist verzweifelt. Auf die Frage, was sagt uns das über das grüne Kulturverständnis, antwortete er bei Facebook in diesem Zusammenhang:
„@Inke: Das sagt uns, dass die Grünen kein Kulturverständnis haben! (Das sagt übrigens ein grünes Parteimitglied, das vor Jahren mit anderen darum gekämpft hat, dass das Thema "Kultur" in unserer Partei nach vorne kommt. Vergeblich. Total vergeblich! Und so wundert das, was da in BaWü abgeht, natürlich überhaupt nicht... Traurig, traurig...) (Quelle)
Wir wissen nicht, was im Südwesten des Landes gerade schief läuft. Neben den Orchesterfusionen beim SWR, dem andauernden Streit um die Musikhochschulen des Landes, neben Stuttgart 21 …. Wohin driftet man ab, welche Restaurationsphantasien spielen sich da ab? Zensur ist für diesen Vorgang sicher ein Wort, das nicht so recht passen will. Wohl aber ein grundsätzliches staatliches Misstrauen gegenüber der Selbstorganisation im Bereich der Kunst. Gängelung eben.
Adornos Worte, auf den alten Sowjetbereich bezogen, entfalten hier wie damals ihre Tragkraft. In seinem Aufsatz „Die gegängelte Musik“ beschrieb er das Vorgehen 1948 folgendermaßen:
„Müßig könnte es scheinen, kulturpolitische Maßnahmen in der sowjetischen Einflußsphäre und gar offizielle Richtlinien von dort sachlich zu erörtern. Jeder weiß, daß man jenseits des Eisernen Vorhangs Kultur von vornherein als Herrschaftsmittel einschätzt, daß alle kulturellen Sorgen, die man geflissentlich beredet, sich in Wahrheit nur auf Fragen der propagandistischen Wirksamkeit oder der Gleichschaltung mit der Generallinie beziehen.“ (Band 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie: Die gegängelte Musik. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 11266 (vgl. GS 14, S. 51))
Machte man damals den Künstlern noch direkt den Vorhalt, so macht ihn heute dem Kulturbetrieb selbst. So umgeht man Begriffe wie Zensur oder Gleichschaltung. Es geht heute einfach geschickter, wenn man das Umfeld für Kunst verödet oder bürokratisch-machtbeflissen vermisst. Die Transformation der Kunst in Betrieb ist damit ganz offensichtlich fortschreitend.
Hier nun die „Charts Musik“ von Kreidler, in C-Dur und 4/4-Takt: Wahrlich zu progressiv für Sekt und Selters.
UPDATE: 24.10.2013
Von Seiten des Ministeriums hat uns zu diesem Vorgang folgende Stellungnahme erreicht, die wir einfach wiedergeben und nicht kommentieren.
„Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg freut sich, auch in diesem Jahr den Preisträger des Schiller-Gedächtnispreises nicht nur durch den Preis selbst, sondern auch durch eine angemessene und gelungene Verleihungsfeier zu ehren. Hierfür durch eine geeignete Organisation und ein passendes Rahmenprogramm Sorge zu tragen, ist Aufgabe des Ministeriums. Die Musikhochschule Stuttgart, in der die Preisverleihung stattfindet, hat für das Rahmenprogramm zunächst einen Vorschlag übermittelt, der auf Zustimmung des Ministeriums traf, gerade weil der musikalische Rahmen die Persönlichkeit und das Werk des Preisträgers inhaltlich spannend und passend zu spiegeln versprach. Allerdings war - im Hinblick auf eine Gesamtdauer der Feier von gut einer Stunde - das vorgeschlagene Rahmenprogramm schlichtweg zu lang, es hätte deutlich mehr als eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg hat daher die Musikhochschule gebeten, das Rahmenprogramm zeitlich zu straffen. Es galt der Tatsache gerecht zu werden, dass im Zentrum der Veranstaltung nicht die Musik, sondern die Ehrung eines Literaten steht. Inhaltliche Aussagen oder Wertungen über einzelne geplante Musikstücke waren damit zu keiner Zeit verbunden. Die Musikhochschule Stuttgart hat daraufhin einen neuen Vorschlag für ein Programm übermittelt, der diesem Anliegen nachkommt. Die Musikhochschule und das Ministerium sind sich sicher, dass wir mit dem nun gefundenen Programm allen Beteiligten einen gelungenen Abend bieten können.“
Ergänzend hatten wir mitgeteilt:
„Die Programmgestaltung der Schiller-Preis-Verleihung fand in einem dynamischen Arbeits- und Abstimmungsprozess zwischen unserem Haus (federführend) und der Musikhochschule Stuttgart statt. Das Staatsministerium war auf Arbeitsebene nachrichtlich beteiligt.
Im Juli 2013 lag ein erster Programmentwurf vor, der 6 Musikstücke zu insgesamt ca. 33 Minuten Länge vorsah. Alle vorgesehenen Musikstücke trafen auf Zustimmung der bei uns verantwortlich planenden Mitarbeiter, weil sie die Persönlichkeit und das Werk des Preisträgers inhaltlich spannend und passend zu spiegeln versprachen.
Lediglich die Dauer aller Stücke von ca. 33 Minuten empfand unser Haus angesichts der gesamten Länge der Veranstaltung von ca. 60 Minuten als zu lang; wie gesagt liegt der Schwerpunkt der Preisverleihung ja nicht auf der begleitenden Musik.
Der Bitte, das musikalische Rahmenprogramm daher angemessen zu kürzen, kam ein neuer Programmvorschlag vom September 2013 nach: dieser sah und sieht nunmehr 4 Stücke zu insgesamt ca. 17 Minuten Dauer vor. In dieser Form wurde der Programmvorschlag von unserem Haus akzeptiert.
Ich darf nochmals betonen, dass die Bitte unseres Hauses lediglich war, die Dauer des musikalischen Rahmenprogramms angemessen zu kürzen. Inhaltliche oder musikalische Ablehnung hat keines der vorgeschlagenen Musikstücke zu keinem Zeitpunkt erfahren, ganz im Gegenteil (s. o.).“
Dr. Arndt Oschmann
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg
Stellv. Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit