Debussys Familientragödie – das ist ein Stück für Regisseur Claus Guth und seinen vertrauten Ausstattungspartner Christian Schmidt, dazu Christian Gerhaher und Christiane Karg mit Debüts in den Titelrollen, ein Kenner und Könner wie Friedemann Layer an der Spitze des stilistisch ja wunderbar formbaren Frankfurter Museumsorchesters… ein Erfolg schien vorprogrammiert.
Doch die grundsätzlichen Uneindeutigkeiten und symbolistischen Zweideutigkeiten des Werkes haben Guth und Schmidt ins Missverständliche gesteigert. Alles beginnt und endet in einem weiten schwarzen Bühnenraum, in dem ganz vage im Hintergrund schemenhafte Figuren erkennbar sind: eine Welt der Geister? Aus dem Dunkel kommt Mélisande im schwarzen Unterkleidchen mit schief sitzenden Mantel und auf Pumps staksend, zündet sich fahrig eine Zigarette an: ein missbrauchtes Hürchen nach entsetzlicher Nacht, statt im Wald im Großstadtdschungel?
Aus dem gleichen Dunkel kommt auch Golaud wie ein preußischer Junker und Herrenmensch und nimmt sie mit. Der Fotolinsenvorhang gibt dann den Blick frei auf die alles dominierende Bühnenbildidee Schmidts: vier edle Räume eines Herrenhauses, Erdgeschoss und Erster Stock verbunden durch Gänge, mit bestechender Genauigkeit des „guten Geschmackes“ ausgestattet, dennoch Gefängnisse der Wohlanständigkeit.
In diesem Hyper-Realismus sollen dann die beiden liebenden Phantasten Grotte, Brunnen, Wald, Sterne oder Meer beschwören: das helfen Licht und Regie nicht genug, beide hochbegabten Sängerdarsteller bemühen sich enorm, doch die erotischen Traum-Fluchten gelingen nicht. Dass Mélisande - als kleine Flucht? - heimlich raucht, dass sie ihren Ehering spielerisch und doch bekennend statt in den Brunnen hier aus dem Fenster des Kinderzimmers von Yniold wirft: kein Interpretationsgewinn. Desgleichen küsst der alte König und Familienpatriarch Arkel Mélisande wie ein gieriger Greis und wühlt dann seinen Kopf in ihren Schoß: verfallen alle Männer dem fast Lulu-haften Rätselwesen?
Am Schluss, nach Melisandes Tod, erstarren alle Figuren zu zwar noch letzte Phrasen singenden, aber doch „lebenden Toten“, Mélisande geht mit der Drehbühnendrehung aus dem Haus mit einem Lichtspot in den schwarzen Raum der Schemen, Pelléas kommt ihr in einem Lichtspot entgegen, beide sehen sich, strecken einen Arm nacheinander aus, berühren sich nicht: eine Halb-Idylle des Wiederfindens im Jenseits? Befremdlich ungenau, aus dem Werk nicht zu erschließen.
Leider dirigierte Friedemann Layer mit dem ja wohl auch zu allem anderen fähigen Museumsorchester Debussy fast durchweg in impressionistischer Weichzeichnung und zu dickem Klang. Nur in den letzten Zwischenspielen tönte etwas von dem gefährlich irisierenden und dann auch hochdramatischen „Theater der Grausamkeit“, das seit der epochemachenden Interpretation durch Pierre Boulez 1970 selbstverständlich ist.
Ein verlorener Abend? Nein, denn ein fabelhaft rollendeckendes Ensemble bestach mit Einzelzügen, so der „wie ein Alter“ souverän mitspielende und singende Knabe Yniold des Mainzer Domchor-Solisten David Schläger; der neurasthenisch eifersüchtige, baritonal auftrumpfende Golaud von Paul Gay; das halbblinde, aber bass-wohltönend realitätsferne Oberhaupt Arkel von Alfred Reiter.
Verdiente Bravo-Rufe für die zu Recht rätselhaft bleibende Mélisande von Christiane Karg: zur Kindfrau-Figur kam ein gezielt „unsinnlicher“ Sopranklang – auf Anhieb eine Mélisande auf Opern-Weltniveau. Pelléas kann der einzig „gesund virile“ junge Mann in dieser symbolhaft gebrochenen Familie sein – oder eben Christian Gerhaher: sein eminenter Sinn für nicht zu sich selbst findende wie kommende Figuren, die eigentlich eine andere Welt bräuchten und etwas von ihren Herrlichkeiten ahnen lassen in berührend melancholischen Bariton-Tönen – das bestach und berührte.