Soviel Gemeinschaft war selten bei einem Festival, das ansonsten dem virtuosen Einzelkämpfer huldigt. Doch jetzt haben acht Komponisten und noch einmal soviele ausführende Pianisten ein nagelneues „Piano Book“ aus der Taufe gehoben. Ob die Marke „Klavier-Festival Ruhr“ mit diesem Vorzeigeprojekt seiner eigenen Zukunft begegnet ist, muss offen bleiben. Nur soviel steht fest: Es war eine „Heirat von Schöpfung und Pädagogik“, sagt Pierre-Laurent Aimard.
Das machte Sinn. Wie überhaupt immer etwas Besonderes dabei ist, wenn Pierre-Laurent Aimard einen Konzertabend gibt. Als Stammgast beim Klavier-Festival Ruhr weiß er seine Reputation konsequent in den Dienst künstlerischer Freiheit zu stellen. Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg hält große Stücke auf den Künstler, von dem er weiß, dass er praktisch unersetzbar ist. Für die seit einigen Jahren laufenden festivaleigenen Vermittlungsprojekte ist er schlichtweg die Idealbesetzung. Nicht, weil Aimard von Haus aus ein Pädagoge wäre. Es ist die Herkunft aus der zeitgenössischen Musik, die ihm unter den Klavier-Virtuosen von Rang ein Alleinstellungsmerkmal sichert.
Aimard nimmt man es ab, wenn er im Namen eines Festivals, das sich dem Glanz reproduzierender Darstellung verschrieben hat, für „Vermittlung“, für „Zeitgenössisches“ eintritt. Nicht mit erhobenem Zeigefinger oder bemühtem Mitleidsgestus. Es ist Aimards Zeit als Solopianist des Ensemble Intercontemporrain sowie als Teilnehmer der Analysekurse Olivier Messiaens, die ihn tief geprägt haben – in seinem Verantwortungsgefühl für das (neue) Werk und in seiner Überzeugung, dass es ebenso glänzen muss wie das Alte.
Einen Glanz, den er nun auch der Uraufführung eines Auftragswerks des Klavier-Festivals Ruhr hat zuteil werden lassen, wobei er sich die Arbeit am „Piano Book“ (und den Ruhm daran) geteilt hat: Mit Tamara Stefanovich, seiner langjährigen kongenialen Partnerin bei den Education-Projekten des Festivals, vor allem aber mit der musikalischen Jugend. Mit von der Partie zwei Studierende seiner Klavierklasse an der Kölner Musikhochschule, dazu begabte junge und jüngste Pianisten. So war es im wahrsten Sinn ein Gemeinschaftswerk, einen ganzen Korb voller neuer Stücke für zwei und für vier Hände (mit leichterem Secondo-Part für den Schüler) aus der Taufe zu heben.
Mit der Lieferung beauftragt waren York Höller, Hanspeter Kyburz, Marco Stroppa und George Benjamin, Aimards Studienkollege aus alten Messiaen-Tagen. Ein handverlesenes Quartett von Komponisten und Kompositionslehrern, denen ihrerseits die Möglichkeit zugestanden war, für dieses hochkarätige Projekt mit geschlossener Verwertungskette (CD, Internetauftritt, Verlagsdruck inbegriffen) einen Schüler mit ins Boot zu holen. So hatte es das ausführende Team um die Achse Aimard/Stefanovich schließlich mit 16 ebenso kurzen wie kurzweiligen Stücken zu tun, die (eine weitere schöne Aimard-Idee) nach der Pause im Krebsgang (aber in anderer Besetzung) wiederholt wurden.
Ein Kenner-Publikum erlebte im intimen Kammermusiksaal der Essener Folkwang-Hochschule einen glücklichen Konzertabend, von dem man am Ende ganz vergessen hatte, in wessen Namen er zustande gekommen war. Was zu guter Letzt doch die Frage berührt, inwiefern ein Mammut-Unternehmen wie das Klavier-Festival Ruhr darin bereits seiner eigenen Zukunft begegnet ist? Oder hätten wir hier eine Zukunft gehört und gesehen, die mit dem Virtuosen-Treff so viel zu tun hat wie die Larve mit dem Schmetterling? Anders, noch konkreter gefragt: Geht das zusammen – Festivalbetrieb und neue Musik? Man wird darauf zurückkommen müssen.