Schon nach wenigen Minuten hatte man das Gefühl: Das könnte gut gehen. Und das lag vor allem an der musikalischen Kompetenz und der menschlichen Integrität von Riccardo Chailly. Die zum Teil sehr anstrengenden Proben im Leipziger Gewandhaus für Bachs Matthäus-Passion gerieten ein ums andere Mal zum eigentlichen Ereignis dieser Großproduktion, für die das Gewandhausorchester und Riccardo Chailly nicht nur den ortsansässigen Thomanerchor, sondern auch den Tölzer Knabenchor engagiert hatten.
Worüber man in mehrfacher Hinsicht staunen konnte. Denn beim vorletzten Bachfest trug der Tölzer Knabenchor zwar eine chorisch beeindruckende, solistisch aber stellenweise problematische Ausgabe der h-Moll-Messe vor, was die örtliche Zeitung und sogar den Mitteldeutschen Rundfunk, der das Konzert Wochen später sendete, zu rüden Verrissen des Chores bewog. Diesmal dagegen schienen die Bedenken der Leipziger gegen die Tölzer wie weggeblasen, und das Gemeinschaftsunternehmen Matthäus-Passion – mit drei Konzerten und einer CD-Produktion – geriet trotz des vergleichsweise heutigen Orchesterklangs zu einem Höhepunkt Bachscher Aufführungstradition.
Denn der Stimmklang, der die Oratorien von Bach nun doch stärker prägt als die instrumentale Grundstruktur, konnte kaum originaler sein. Es kamen gleichsam die beiden Strömungen der authentischen Stimmbesetzung zusammen: der ab einer gewissen Höhe falsettlastige, ätherisch-fahle Klang der Thomaner und der in jeder Lage und jeder dynamischen Abstufung extrem obertonreiche, koloraturbewährte, flexible Vollklang der Tölzer. Ein weiterer, sich im Verlauf der Proben und Aufführungen immer synergetischer ergänzender Unterschied: die jungen, unausgereiften Männerstimmen der Thomaner, und die, zumindest teilweise im Bass, schon wieder allzu dominanten Männer der Tölzer.
Natürlich versuchten beide Chöre, sich in Bestform zu zeigen. Die Thomaner hatten den Vorteil, dass Kantor Biller schon in der Vorauswahl der Chöre darauf geachtet hatte, sich alle Fortepartien zu sichern. Die Choräle wurden gemeinsam gesungen und die Tölzer traten zunächst nur als Stichwortgeber – „Wohin?“ – oder Koloraturdekorateure auf.
Nachteilig dagegen wirkte sich aus, und das merkte man eigentlich erst beim dritten Konzert in London, dass die gerade erst von einer Australien-Tournee heimgekehrten Thomaner zeitgleich zu den anstrengenden Proben einen vollständigen Schulalltag zu bewältigen hatten.
Die Direktorin der Thomasschule kannte da wenig Gnade oder künstlerisches Verständnis. Aber das ist ein heikler Punkt, über den man unter den Betroffenen – gerade auch im Hinblick auf den Ende 2008 im Spiegel erschienenen Artikel – nicht ohne Emotionen spricht, ebenso wenig wie über das Regiment der Leiterin des Alumnates, die in so genannten Erziehungsfragen den Kantor jederzeit überstimmen kann.
In den Konzerten war von diesen nicht pauschal zu beurteilenden Problemen, mit denen wohl alle Knabenchorinternate zu tun haben, ansonsten nichts zu spüren. Riccardo Chailly interessierte sich, neben dem nahezu vibratofreien Spiel seiner Gewandhausstreicher und den ausgezeichneten Solisten (Christina Landshamer, Marie-Claude Chappuis, Johannes Chum, der vielversprechend klare Tenor Maximilian Schmitt, Thomas Quasthoff und der anfänglich zu opernhafte Hanno Müller-Brachmann) vor allem für die Dramatik der Chöre.
Dass die Artikulation der Thomaner mit abnehmender Fitness bis zur Unkenntlichkeit verschwindet, ist ein sicherlich behebbarer Mangel, ebenso wie die manchmal unsichere Intonation bei hohen Einsätzen. Dass sie aber – vergleichbar den Windsbachern – einen möglichst homogenen Einheitsklang pflegen, der die Gefahr der Langeweile und Profillosigkeit geradezu provoziert, dies scheint doch eher gewollt und wird wohl in Leipzig und andernorts auch nicht als Manko empfunden, sondern als Bach gemäße Stimmkultur. Darüber lässt sich, wie schon unter Instrumentalisten, wunderbar und durchaus fruchtbringend streiten.
Gerhard Schmidt-Gaden geht da mit seinen Tölzern einen ganz anderen Weg. Er liebt die Extreme, besteht auf obertonreichem Vollklang vom Pianissimo bis zum Fortissimo – da darf es weder verhauchtes Flüstern, noch plärrendes Geschrei geben – und auf der Textverständlichkeit als Grundlagen für eine farbige, bis ins Detail dramatisch strukturierte Gestaltung.
Riccardo Chailly konnte mit beiden Klangkonzepten gut arbeiten, und am Ende vermischten sich die Chöre zu überwältigend intensivem Klanggeschehen, ohne dabei ihrer Individualität beraubt zu sein. Allein dies beweist, wie präzise Chailly, von der Bachschen Partitur ausgehend, die beiden Originalklangspektren in sich ausformen und zueinander führen konnte. Entsprechend tief beeindruckte das Ergebnis. Stehende Ovationen – angesichts des in der Mehrheit höchst konzentrierten und zur musikalisch-religiösen Kontemplation neigenden Leipziger Publikums ein viel zu früh einsetzender Beifallssturm. Gleiche Reaktionen beim dritten Konzert im Londoner Barbican Centre – mit der krankheitshalber eingesprungenen viel zu Puccini-haften Sopranistin Sybilla Rubens, die mit ihrer stimmlichen und schauspielerischen Koketterie mit dem Publikum viel von der Passions-Wirkung auf sich zog.
Schade, denn die Londoner zeigten sich sowohl von den Chören, die so anders klingen als deren brustarme und kopflastigere Knabenchöre, ebenso beeindruckt wie vom Leipziger Gewandhausorchester, das in Zukunft eines von drei oder vier ständigen Gastorchestern werden soll. Auch dies könnte eine Erfolgsgeschichte werden in Zeiten der Krise. Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass Decca trotz großer innerbetrieblicher Probleme – sogar über die Auflösung des Labels wird spekuliert – die Aufnahme der Matthäus-Passion nicht erst, wie angekündigt, 2011 herausbringt, sondern möglichst bald.