Gibt es absolute Musik? Klar. Braucht diese Körpersprache? Nein. Die Avantgarde der vierziger und fünfziger Jahre im zwanzigsten Jahrhun-dert hatte es in solcher Gemengelage leichter. Gab es da doch Cage und minimalism und Cunningham und unzählige andere, die Modernität und Zeitgenossenschaft zu realisieren aufgebrochen waren.
Die musikalische Produktion der damaligen Zeit freilich reichte nicht aus so über die Zeiten. Ein Rückgriff auf Vorhandenes blieb unvermeidlich, wollten die zahllos und geographisch expandierenden Formationen der körperlichen Expansion aller Tanzenden und Choreographierenden des Planeten dem kreativen Schub auch standhalten. An manchen Orten halfen Strawinsky und Bernstein und Prokofjew aus. Andere bedienten sich dann bei der Musik von Bach, Beethoven, Mozart. Bachs Musik stand jetzt zum Auftakt der wahrhaft traditionsreichen und gleichermaßen der Modernität wie der Zeitgenossenschaft sich öffnenden Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts am Beginn.
Und zwar nicht das legendäre „Concerto Barocco“ von George Balanchine nach dem d-moll-Doppelkonzert für zwei Violinen für das New York City Ballet, sondern die kontemplativen Goldbergvariationen. Während es Balanchine mit der Konzertumdenkung in die Körpersprachlichkeit noch locker gelang, das Instrumentale in all den tänzerischen Mehrstimmigkeiten wunderbar flirrend, irisierend und melancholisch auf die Theaterbretter zu transferieren, tat sich Jerome Robbins mit seiner Umdeutung der in spirituelle Regionen verweisenden Goldbergvariationen anno 1971 (auch beim New York City Ballet) sichtbar schwer. Erdenschwer. Trotz aller luftiger Leichtigkeit in höfisch reduzierter Anmutung.
Gewiss war das damals aufwühlend, zu einer Zeit, die sich noch nicht an Matthäuspassionen und h-moll-Messen tänzerisch abarbeitete… Und das muss im Blick bleiben bei einer rekonstruierten Neuproduktion anno 2012. Die als Innovation schon nach der New Yorker Uraufführung ein Jahr später also und olympisch geadelt gewissermaßen in München als Gastspiel zu erleben war. Und jetzt als Erstaufführung beim Bayerischen Staatsballett. Gute Idee also trotz allem zwei choreographierende Legenden des Tanztheaters als Auftakt zu exponieren: Jerome Robbins, gestorben 1998, Jiri Kylián, geboren am 21. März 1947.
Und gerade wegen aller Professionalität der Münchner Compagnie muss die Frage gestellt werden, ob die Körpersprache an sich am Ende ihres Vokabulars ist. Trotz all der „Dialekte“ bis in die Mitte von Gewaltexzessen hinein, bis in die Mitte der gesellschaftlich relevanten Erzählungen gerade auch einer Pina Bausch hinein (die allerdings ihrerseits nach deren Tod am 30. Juni 2009 auch nur noch retrospektiv erlebt werden können). Als Beitrag aus der Geschichte.
Die dem Heute allerdings Wesentliches zu sagen vermag. Was früher noch klassisch verkrustete Sichtweisen aufbrach, buchstabiert sich heute aber schon ein wenig gymnastisch über die Riesenbühne des Nationaltheaters hinweg. In immer gleichen Hebungen und Streckungen, Ballungen und Auflösungen, Zusammenrottungen und Einzelaktionen.
Bei Kylian auch, dessen „Gods and Dogs“ Tiefendimensionen von irdisch und außerirdisch, von erdenschwer und spirituell-geistig in durchaus sensibel- kontrapunktischer Gestalt auslotet (uraufgeführt 2008 beim Nederlands Dans Theater II in Den Haag). Gewiss, solches zu zeigen, vorzuführen ist sinnvoll, verdienstvoll. Und führt auch zu begeisternden Orgien der Zustimmung – bei Kylian ausgeprägter als bei Robbins. Kann aber auch Anlass sein, vertiefend sich auf die Suche zu machen nach Tanztheater, nach Ballett der direkten Gegenwart, die sich nicht von der akustisch-musikalischen und der visuellen Qualität überlagern lassen. Die aus dem Erkenntnisstand früherer Zeiten schöpfen und weiterdenken und womöglich Authentisches im Anfang des dritten Jahrtausends als repräsentativ dafür offenbaren.
Denn das kann nicht sein, dass Kylians Musikcollage aus Dirk Haubrich und Ludwig van Beethoven stärker ist als der „act“ an sich. Oder gar, dass Elena Medniks wundervolles Klavierspiel die eigentliche Begeisterung auslöst, fast so, als hätten sich in ihrem Bachspiel alle großen Bachspieler zwischen Gould und Perahia, von Gulda bis Richter und Schiff versammelt. Das, was Elena Mednik vollbringt, Unvergleichliches, das kann auch die wundervolle Münchner Compagnie. Aber das war ja erst der Eröffnungsabend der BallettFestwoche2012 des Bayerischen Staatsballetts.