Hier gilt es der entgrenzenden Innovation. Die Bezeichnung Oper, die Heiner Goebbels für die „Landschaft mit entfernten Verwandten“ verwendet, sollte nicht im engen Sinne der Tradition des 18. oder 19. Jahrhunderts verstanden werden. Die 2002 in Genf uraufgeführte Kreation hat nichts mit einer dramatischen Handlung und wenig mit Arien und Operngesang zu tun – der akustische Einsatz des Baritons Holger Falk bildet die Ausnahme.
Goebbels, seit 1972 in Frankfurt als Musiker und Komponist ansässig, in Gießen als Professor für Angewandte Theaterwissenschaft tätig und seit 2012 in Gelsenkirchen als Intendant der RuhrTriennale, stellte auch für diese Arbeit eine stilistisch vielseitige und streckenweise kurzweilige Text- und Musik-Collage zusammen, die keiner Musik- oder Theatergattung eindeutig zuzurechnen ist. Die Folge musikalischer Genre-Bilder wurde jetzt – der Komponist führte wieder selbst Regie – in überarbeiteter Form im Bockenheimer Depot realisiert, in der Nebenspielstätte der Frankfurter Oper am Rande des Universitätsviertels.
Das Bemerkenswerteste an der „Landschaft mit entfernten Verwandten“ ist womöglich ein Dauerzustand, der erst nach und nach ins Bewusstsein der ZuschauerInnen dringt: Bei den Akteuren, die da z.T. größere Sprech-Partien bewältigen und sich zusammenfinden zu Bildern, die von live-Musik erfüllt sind, handelt es sich fast ausschließlich um Mitglieder des Ensemble Modern, einer Kammermusik-Formation. Der grenzüberschreitende Einsatz der Musikerinnen und Musiker hebt eine der am hartnäckigsten fortbestehenden Arbeitsteilungen des hergebrachten Theaterbetriebs auf. Goebbels hat das Team dazu motiviert, ungeahnte Kräfte und Kapazitäten freizusetzen. Also spielt z.B. Catherine Milliken nicht nur Oboe und Musette oder Valentin Garvie Trompete, Kornett und Posaune, sondern beide treten – ausgesuchte Textpassagen rezitierend – zugleich als Mimen in Aktion. Sie engagieren sich sprechdarstellerisch in weit höherem Maß als dies z.B. in den 70er, 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bei der Ausführung von „instrumentalem Theater“ zu sehen war.
Die Interpretation dieser „entfernten Verwandten“ vollzieht sich mit Verve und mit dem Charme einer vom „wirklichen Leben“ diktierten Alltäglichkeit. Das Ensemble modern unter musikalischer Leitung von Franck Ollu macht seine Sache vorzüglich – akkurat und allemal zielführend. Die charakteristischen kleinen Gehemmtheiten von nicht professionellen Darstellern – der einst als kleiner Trommler berühmt gewordene David Bennent bildet die andere Ausnahme – sind offensichtlich ebenso gewollt wie das Outrieren und die Merkmale des begeisterten Laiengesangs. All diese Elemente sind, wo sie eine transatlantische Landschaft mit entfernten Verwandten markieren, Fermente einer leisen Ironie und freundlich-kritisch gemünzt. Die Nummer der amerikanischen Freunde erscheint wie ein heiterer Nachhall des „Sogenannten linksradikalen Blasorchesters“.
‚Did it really happen?‘ Um was es geht in und mit dieser polyglotten Szenenfolge ist nicht in einem Satz zu sagen. Kaum etwas tritt klar hervor und ist eindeutig oder gar theaterdidaktisch deutlich. Da gibt es zunächst die Ebene der Lesefrüchte, Zitate quer durch die Kulturgeschichte, mit denen Heiner Goebbels offensichtlich den Avantgarden früherer Epochen huldigt – Leonardo da Vinci vornan und Gertrude Stein am ausführlichsten. Giordano Bruno, der zu früh das dachte, was dann in späteren Jahrhunderten selbstverständlich wurde, und dem daher die kirchliche Oberaufsicht über das Geistige das Leben nahm, ist ebenso mit von der Partie wie T.S. Eliot oder Michel Foucault. Kriege, Bataillen, Schlachtengemälde, Grausamkeiten, überhaupt das Militärische bis hin zu Details der bitteren Niederlage oder zum schrägen Triumphmarsch durchziehen den Text- und Bilder-Parcours.
Die optische Ausstattung, die der Bühnenbildner Klaus Grünberg im Zusammenwirken mit der für die Kostüme zuständigen Florence von Gerkan entwickelte, beziehen viel Schönheit aus der Kunstgeschichte. Die Aura wird in Gestalt von Renaissance-Gemälden und Rokoko-Kostümen herbeizitiert, aber auch durch eine auf die Zentralperspektive verweisende Lineatur gebrochen. Eingeschossen sind Momente von Urlaubseindrücken – wie z.B. einem Abstecher in den Maghreb mit entsprechend arabeskem Hintergrund oder einem Ausflug zu den Derwischen. Am Ende steht die Klangschalen-Zeremonie eines Esoterik-Trips. Zuvor als Highlight – verweisend auf die Herkunft der Multi-Media-Technik von Goebbels – ein Hörstück über den unterschiedlichen Zuschnitt der Radio-Nachrichten bei den verschiedenen Völkern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Das alles ergibt aber nicht unbedingt, wie Goebbels sich das ausdachte, einen „musikalisch-literarischen Rundgang durch ein Museum“, sondern deutet eher an, wie rasch etwas, was vor drei Jahrzehnten mit weitreichend innovativen Intentionen startete, museal zu werden verspricht (dagegen spricht freilich wenig, denn Museen stehen ja derzeit so hoch im Kurs wie selten, und warum sollte nicht auch Grenzgängerisches vom diesem Boom profitieren?).
Die in Frankfurt neu aufbereitete klangpluralistische „Landschaft“ bietet manches Gedankenhäppchen und kontemplative Landschaftsmusik, aparte akustische Kontraste in den manchmal etwas länglich wirkenden Szenen und zwischen diesen. Die Produktion lässt sich einfach als kaltes Buffet der Crossover-Musik nehmen, in der die Erinnerung an die avancierte neue Musik des 20. Jahrhunderts etwa so stark ist wie die an den kämpferischen Ersten Mai in der Rhetorik der Gewerkschaftssekretäre ein paar Straßenecken weiter östlich. Heiner Goebbels war wieder einmal, wie häufiger im Leben, zu einem günstigen Augenblick am rechten Platz zur Stelle. Er ist eine der Pilotfiguren der musikalischen Postmoderne und dabei nicht nur Musiker, sondern ein Künstler und Kunst-Manager, der die feinen Schwebungen des Zeitgeists hellwach erfasst und ihnen mit besonderem Geschick Rechnung trägt.