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Setzten Sie jetzt Ihre 3D-Brille auf: Michel van der Aas Oper „Sunken Garden“ in Amsterdam. Foto: www.vanderaa.net
Setzten Sie jetzt Ihre 3D-Brille auf: Michel van der Aas Oper „Sunken Garden“ in Amsterdam. Foto: www.vanderaa.net
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Grenzwertig: Eröffnung des Amsterdamer Holland-Festivals mit Michel van der Aas „Sunken Garden“, einer „3D-Film-Oper“

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Sind Werke mit einer Kernsubstanz, die sich auf ein Leben nach dem Tod richtet, rationaler Kritik zugänglich? In der Hauptsache wohl nicht, da diese bekanntlich in hohem Maß eine Frage des Glaubens oder Nicht-Glaubens ist. Wohl aber stellt sich zur Diskussion, wie betönte Bilder zu jenseitigem Lebensglück gewürzt, gerahmt und serviert werden.

Michel van der Aa, 1960 in Oss (Niederlande) geboren, debütierte als Opernkomponist 2006 in Amsterdam mit „After Life“. Das 2009 gründlich überarbeitete Kammerstück basierte auf einem Film von Hirokazu Kore-Eda und zielte auf die Frage nach dem bemerkenswertesten Moment im Leben des Einzelnen, die sich womöglich am Ende stellt. In beiden Versionen handelte es sich um ein Werk des Futur II, das auf das einstimmt, was einmal gewesen sein wird.

Michel van der Aa ist sowohl dem Erkunden der Verbindungen von gesangsgestützten Arbeiten und filmischen Techniken treu geblieben wie seiner Vorliebe für Themen kurz hinter der letzten Demarkationslinie des menschlichen Daseins. Auch die neueste Arbeit ist eine Kammeroper, die sich mit fiktiver oder realer Existenz in einem schönen Jenseits befasst und damit in Kontrast setzt zu einem keineswegs paradiesischen Diesseits: „Sunken Garden“ wurde Mitte April an der English National Opera in London uraufgeführt – ohne größeren Nachhall auf dem Kontinent. Des ungeachtet – es war längst programmiert – eröffnete das Holland Festival mit diesem grenzwertigen Werk. Die mehr oder minder transzendenten Botschaften offenbarten sich in einem von einer niederländischen Bank gesponserten neuen Anbau an die alte Stadsschouwburg.

„Sunken Garden“ stützt sich auf einen Text von David Mitchell. Der mutet dem in der Regel wenigstens mittelmäßig vernunftbegabten Zuschauer das Eintauchen in TV-genährte Fantasy-Welten zu. Mitchells zerfaserte Libretto-Vorlage tastet sich – wie bereits van der Aas Debüt-Oper „After Life“ – an Okkultes heran. Es geht um einen jungen Fallschirmspringer, von dem die Zuschauer in einer sehr ausdrucksstarken Sequenz mit dem Sänger Jonathan McGovern erfahren, dass er starke Schuldgefühle entwickelte, als seine kleine Tochter Emily starb, während er sie betreute – er war doch nur auf ein Bier gegangen; als er wieder nach ihr sah, war sie „steif wie ihre Puppe, nur kälter“. Angedeutet wird in der Schluss-Szene der hochgradig mit Film-Einblendungen operierenden Kammeroper, dass sich bei einem Absprung Simons Schirm nicht öffnete. Aus dem Vorangegangenen ergibt sich, dass er mit dem vermutlich harten Aufprall nicht zur Hölle fuhr, sondern auf wundersame Weise in den Zaubergarten der Kunst-Sponsorin Zena Briggs gelangte.

In der synthetischen Natur-Oase, die mit leuchtenden Pflanzen und Sträuchern prunkt, trifft er auf die keusche Amber, die Tochter einer ungeniert egomanen Galeristin. Kate Miller-Heidke ist ein anmutiges Wesen, das mit der absichtsvoll flach gehaltenen Stimme einer Pop-Sängerin den von ihr bestrittenen Episoden eigentümliche und merkfähige Klangstruktur und -farbe verleiht. Das am Tod der besten Freundin mitschuldige blonde Girl Amber wurde von seiner Mutter eines ausschweifenden Lebens verdächtigt und löste sich auf unerklärte Weise „in Luft auf“. Nun aber sinniert sie im Paradies – nach dem Sündenfall ist womöglich vor dem Sündenfall, hier aber eher. Die ihr zugeschriebenen Episoden erscheinen als Verheißung: Vergessen und vergeben dessen, was als schuldhaft empfunden wird.

Insgesamt bewegen sich die GrenzgängersängerInnen in schön modernem Ambiente. Die Einrichtung der Appartements und der Galerie, die sich halb virtuell in einem großen viergeteilten Guck-Kasten aufbauen, orientierte sich geschmackvoll an den Bildvorlagen der Kundenzeitschriften von Bausparkassen. Die Betreiberin des „Sunken Garden“ hatte zu Beginn, warum auch immer, den Video-Künstler Toby mit Nachforschungen über die beiden Vorzugsinsassen ihres Paradieses beauftragt. Bei seinen Recherchen trifft dieser auf einen aus Pakistan stammenden Insassen einer psychiatrischen Anstalt, der die Ärztin Dr. Iris Marinus verdächtigt, ihre Hände irgendwie mit im Spiel zu haben. Sie trifft – es ist der dramatische Höhepunkt – auf die Kunst-Sponsorin. Die brillante Sopranistin Katherine Manley gerät mit der Medizinerin, der Claron McFaddon einen gewaltigen Stimm-Ambitus verleiht, lautstark und virtuos aneinander. Und die Film-Animationen entfachen einen auseinanderfließenden Farbenrausch mit sich auflösenden Formen.

Der vom Komponisten mit situationsbedingt scharfen oder elegischen, vereinzelt herb-dissonanten und immer wieder auch tonal-emotionalen Klang-Spots versehene Text setzt sich aus Patterns der Science-fiction-Literatur und -Filme zusammen. Diese Art Montage-Libretto lässt sich relativ beliebig in ähnlicher Weise noch meilenweit verlängern. Und tatsächlich dauert es gefühlte zwei Stunden, bis „Sunken Garden“ aus der Welt namenloser Künstler und Galeristen in jene „anderen Welten“ führt, auf die es Michel an der Aa ankommt – dieser Charmeur der Esoterik ent- oder verführt aus der realen Lebenswelt mit einer abwechslungsreichen postmodernen Theatermusik. Die vom Komponisten selbst verantwortete Inszenierung, zu deren plastischer Wahrnehmung 3D-Brillen vonnöten sind, wirkt weithin professionell, bewahrt sich dabei die Treuherzigkeit des von einer guten Sache überzeugten Amateurs.

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