Die Stars sind Ornament. Sie sind schmückendes Beiwerk einer Messe, deren radikaler Umbau den Wandel der Musikindustrie abbildet. Eindrücke von der 47. Musikmesse in Cannes.
Wieder wurde gemunkelt. Wie schon in den vergangenen Jahren hat die Standfläche auch 2013 spürbar abgenommen. Die einstmals eng aneinander gedrängten Boxen kleinerer und größerer Firmen sind weitläufigen, zumeist national geführten Gemeinschaftsständen, Diskussionsbühnen und großzügigen Meetingbereichen gewichen. Kaum noch ein Ton Musik dringt zu den Flaneuren der Messehalle. Sie ist verbannt in Kopfhörer, iPads, mobile Abspieleinheiten. Konzerte und Showcases sind weitgehend aus dem Palais des Festivals in umliegende Bars und Club ausgelagert und im Umfang auf ein Minimum reduziert, auf Zweitligisten, Newcomer und Einsteiger aus popmusikalischen Schwellenländern wie Korea oder Malaysia.
Wenn überhaupt sich ein bekannter Künstler wie Lang Lang, DJ Spooky, Jean Michel Jarre oder Mark Hoppus von der amerikanischen Punkband Blink-182 blicken lässt, dann als Redner und Gesprächspartner auf dem Podium. Bruno Crolot, der im vergangenen Jahr die Leitung der Branchenmesse Midem von Dominique Leguern übernahm, hat mit diesem Programm seinen Auftrag ernst genommen, die Veranstaltung in eine neue Richtung zu führen und damit konkurrenzfähig zu anderen internationalen Events wie South by Southwest (SXSW) im texanischen Austin, der jährlich ihren Ort wechselnden WOMEX oder auch der c/o pop in Köln zu halten.
Verlust der Einzigartigkeit
Die musikwirtschaftliche Gegenwart hat sich nachhaltig verändert. Laut Analysten wie Next Big Sound wurden 2012 93,8 Milliarden Songs durch Onlineplattformen von Youtube bis Soundcloud abgerufen, ein Zuwachs von mindestens 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Streamingdienste wie Spotify, Deezer oder Rhapsody gewinnen rasant an Bedeutung und sollen bis zum Ende dieses Jahres von bislang etwa 10 Prozent auf rund 25 Prozent des Musikkonsums wachsen, auch wenn die CD vor allem in Deutschland noch etwa drei Viertel der Umsätze generiert. Der Verkauf von Musik tritt dabei zunehmend zugunsten des Zugangs zu Datensätzen in den Hintergrund. Es ist ein Übergang von der Ära der Verteilung zur Ära des Konsums, mit erheblichen Folgen für die Identifikation des einzelnen Hörers mit dem Produkt. Denn bezahlt wird kaum noch für ein bestimmtes Stück eines Künstlers, sondern pauschal für ein Nutzungsrecht.
Das wiederum widerspricht der Vorstellung des kreativen Aktes eines Musikers, dessen Einzigartigkeit bislang dessen Bedeutung bestimmte. Kunst wird schleichend ersetzt durch deren Gebrauchswert. Aus einer ideellen Größe wird ein Konsumgut, das ähnlich vergänglich ist wie die Tüte Corn Flakes am Frühstückstisch. Die Irritation auf Seite der Musiker ist stellenweise groß, denn die Umwertung bedeutet auch eine Abwertung. „Ich habe früher drei Viertel meines Taschengeldes für Musik ausgegeben“, meint Mark Hoppus im Gespräch. „Heute hat man für 10 Dollar im Monat Zugang zu allem, was jemals gespielt wurde, und kaum einer interessiert sich noch dafür. Ich glaube, der Ansatz ist falsch. Ich würde einen Zuhörer fragen: 'Wenn du den Zugang zu aller Musik bekommen könntest, die jemals gemacht wurde, was würdest du zahlen?' Dann müssten eigentlich Tausende Dollars herauskommen“.
Ein grundlegender Denkfehler
Allerdings sitzt auch Hoppus damit einem grundlegenden Denkfehler auf, der die Musik seit dem Aufkommen von Tonträgern, genau genommen bereits seit dem Notendruck begleitet. Denn niemand, der eine CD oder eine LP gekauft hat, hat letztlich die Musik besessen, die darauf gespeichert war. Sein Eigentum war das Medium des Transports, verbunden mit einem Nutzungsrecht. Das war kein Problem, solange der Musikkonsum an den Tonträger gebunden war, machte es beispielsweise Verwertungsgesellschaften leicht, die Rechtelage zu kontrollieren und verhalf dem Hörer zu der Illusion, er würde einen Teil des Künstlers besitzen und damit quasi an dessen Leben teilnehmen.
Mit der Digitalisierung jedoch wurde dieses Verhältnis entkoppelt, mit zunächst fatalen Folgen für alle Seiten. Unternehmen, die vormals für die physische Verteilung der Musik zuständig waren, sind überflüssig oder müssen sich grundlegend verändern. Die Verwandlung der Labels in so genannte 360°-Dienstleister, die von der Aufnahme über die Werbung und das Marketing bis zum Live-Geschäft die ganze digitale Verwertungskette abzudecken versuchen, sind ein Resultat dieser Entwicklung. Die Marktdominanz der Verteilungskanäle von Panspermisten wie der Google-Tochter Youtube, die letztlich alle akustischen und optischen Musikdaten verteilt, über Handelsplätze wie iTunes und Amazon bis hin zur Weiterentwicklung des Radios in Form der Streaming-Diensten (und deren Allianzen mit Mobilfunkanbietern) sind weitere Folgen. Auf der Seite der Hörer führt die fehlende Teilhabe hingegen zur Erosion der Identifikation mit dem Künstler und damit zu einer Veränderung der Verhaltensmuster. Musik wird als kostenlose oder im Verbund mit anderem Angeboten gering zu entlohnende Dienstleistung interpretiert. Sie wird vom Gebrauchsgut zum Verbrauchsgut, vom zumindest empfundenen Unikat zum Service. Eine LP warf niemand in den Müll. Wer sie nicht mehr brauchte, verkaufte sie zumeist noch auf Flohmärkten. Ein File jedoch landet schnell mit einem Klick im Papierkorb.
Veränderte Geschäftsfelder
Bruno Crolots Midem-Team hat diese Veränderung verstanden und nostalgiefrei in einen Umbau der Messe umgesetzt. Zentrale Themen neben der schon seit einem Jahrzehnt aktuellen Neuaufstellung der Rechtewahrung im digitalen Kontext sind 2013 daher im Kern identitätsstiftende Felder und Maßnahmen: einmal der Bereich Direct2Fan, die Auslotung der möglichst direkten Kommunikationskanäle vom Künstler zu seinen Hörern, zweitens Marketing und Branding-Deals, also die gegenseitige Befeuerung von Verkaufsstrategien, Werbung, Marken und Musik, drittens die Förderung von motivierendem Technologiefortschritt etwa in Form der Präsentation von Startups und deren Prämierung im Rahmen des Midemlab oder der Veranstaltung des Midem Hack Days, bei dem begeisterte Hobby-Programmierer in zwei Tagen neue Apps kreierten.
Viertens steht das Networking als übergeordnetes Motto über der ganzen Messe, die Möglichkeit zu Kommunikation, Austausch und Verknüpfung der Einzelkämpfer, die in Folge der Zerstäubung des Marktes in Kleinstanbieter spezialisierter Detaillösungen den persönlichen, für Geschäfte noch immer grundlegenden Kontakt kaum mehr pflegen können. Frühere Schwerpunkte wie die Entdeckung junger Künstlertalente vor Ort sind demgegenüber nur noch ein marginaler Teil und werden bestenfalls von einem Idealisten wie Lang Lang thematisiert, der sich bei einer Gastrede für seine eigene Stiftung und deren Kreativ-Output stark macht.
Midemlab und Marketing Awards
Dieses Konzept der Bündelung der Einzelkräfte vor dem Hintergrund der geschäftsfördernden Identitätsstiftung lässt sich nicht nur in der Auswahl der Panel-Themen, sondern auch an den Gewinnern der verschiedenen Messepreise ablesen. Die vier Midemlab Awards gingen zum einen an die App Songful, die aus einem iPad eine Gitarre macht und damit ein persönliches musikalisches Verhältnis zur an sich nüchternen Technik aufbaut. Ausgezeichnet wurde auch die Seite jamplify.com, die einen Fan nach dem Schneeballprinzip zum Promoter eines Künstlers macht und dafür mit Persönlichem wie Eintrittskarten oder T-Shirts belohnt wird. Stageit.com wiederum bietet exklusive Online-Live-Konzerte von Künstlern, in die sich die Fans gegen einen Obolus einloggen können. Audience.fm schließlich ist ein Datensammler, der versucht, über Social Networks und die eigene Seite die Top Fans eines Künstlers zu ermitteln, die sich richtig in die Verbreitung von dessen Schaffen reinknien, auch hier verbunden mit diversen Bonuszuckerstückchen.
Die gleiche Tendenz bestimmt auch die beiden Preisträger der Midem Marketing Competition. Für die „Best Music Brand Marketing Campaign“ wurde die ungarische Vodafone/Yonderboi-Soundmapping-Kampagne ausgezeichnet, in der ein ungarischer DJ zusammen mit seinen Fans nach dem Vorbild Béla Bartóks Klänge und Musikbruchstücke seiner Heimat sammelt, sampelt, in ein Konzert münden lässt und damit gleichzeitig die Leistungsfähigkeit der Mobilfunknetzes bewirbt wie auch ein exklusives Social Event kreiert. Ein weiterer Preis ging an die amerikanische Kampagne für das HTC evo 4G Ltd Smartphone, das anhand des Wilco-Songs „I'm Always In Love“ viele Menschen ein gemeinsames Video-Mobile-Patchwork und damit kollektiv empfundene Emotionen entwickeln lässt.
Politik und Visionen
Die Richtung der Midem 2013 ist daher klar: Identität ist der Schlüssel zum Geschäftserfolg in der sich immer schneller auffächernden digitalen Musikwelt. Wo sie verloren wurde, muss sie neu geschaffen, wo noch vorhanden, gepflegt werden. Darüber hinaus wurde weiterhin viel über klassische Lizenzen und Vertriebe verhandelt, in Bereichen wie Klassik und Jazz, die bislang weiterhin den physischen Tonträger brauchen. Es wurden auch demonstrative kulturpolitische Zeichen gesetzt, etwa als Kulturstaatsminister Bernd Neumann offiziell den deutschen Gemeinschaftsstand eröffnete und der zur Zeit viel und oft zu Unrecht gescholtenen Gema den Rücken stärkte, indem er betonte, dass „entscheidende Veränderungen“ zur verbesserten Durchsetzung des Urheberrechts erfolgen müssen und er dafür bereits ein weiteres Gespräch mit der Bundeskanzlerin Angela Merken und der Content Allianz der Kreativwirtschaft arrangiert habe.
Nicht zuletzt wurden auch Visionen gesponnen. DJ Spooky beispielsweise, ein New Yorker Soundbastler und seit zwei Jahrzehnten ebenso für seine cleveren Ideen wie für seine geschickte Selbstvermarktung bekannt, stellte nicht nur seine App vor, mit dem jeder Besitzer eines iPads oder iPhones zum DJ werden kann, sondern präsentierte sich als klarer Pragmatiker: „Ich bin mit Grandmaster Flash groß geworden und habe jahrelang kistenweise Platten geschleppt. Aber mich hat schon immer Mobilität fasziniert. Deshalb nehme ich inzwischen alles über meine Apps und die Cloud mit mir und gestaltet meine Sets damit. Die Playlists kann jeder im Raum downloaden, Offenheit und Verfügbarkeit der Musik sind für mich Voraussetzung der Arbeit“. Demnächst will er auch eine App namens biobeats anbieten, die den Herzschlag des Nutzers mit den Sounds in seinem Tablet koppelt. Mehr Identifikation geht kaum.