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Herbstliche Stimmung in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel: Henzes „Gisela!“. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale
Herbstliche Stimmung in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel: Henzes „Gisela!“. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale
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Herbstkräftig die gedämpfte Welt: „Gisela!“ von Hans Werner Henze bei der Ruhrtriennale uraufgeführt

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Einen „Pollicino für Erwachsene“ bitte! So hatten es die Kulturhauptstadt-Auftraggeber erbeten. So hat Hans Werner Henze seine „Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ konzipiert. Doch so war dem Herzstück der Henze-Werkschau bei ruhr.2010 nur schwer Theaterleben einzuhauchen. Die Vergangenheit eines großen Komponisten ist das eine – die große Vergangenheitsbeschwörung das andere. [Lesen Sie auch das Interview mit Hans Werner Henze in der Oktober-Ausgabe der nmz.]

Welkes Laub an den Bäumen. Draußen und drinnen. Herbstlich die Stimmung in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel. Bis über dem Schlussbeifall für den betagten, tief gerührten Komponisten liegt die bitter-süße Melancholie des Abschieds. Spürbar die Erleichterung allenthalben, dass das Desaster abgewendet werden konnte. Schon im Premieren-Vorfeld gereizte Nervosität. Durchgesickerte Einzelheiten der zu verhandelnden Dreiecksgeschichte hatten für reichlich unfreiwillige Heiterkeit gesorgt. Tatsächlich konnte Einem nach der bloßen Lektüre des Settings ganz feuerzangenbowlisch zumute werden:

Kunstgeschichtsstudentin Gisela Geldmacher aus Oberhausen will sich in Neapel mit dem Vulkanologen Hanspeter Schluckebier verloben. Eigentlich. Denn wer dazwischenfunkt, ist Gennaro Esposito, von Berufs wegen Reiseführer, Pulcinella-Darsteller und Germanistik-Student. Der ist es! sagt sich Gisela und brennt mit dem gelehrten Giggolo durch – nach Oberhausen. Auf dem theaterneblig eingehüllten Bahnsteig träumt Gisela dann drei Träume. Im fernen Neapel explodiert derweilen der Vesuv. Schluss der Vorstellung. – Eine Story so albern als sei sie von alternden Librettisten nach Erreichen des Bowlengrundes ausgekichert worden. Kann man ja machen. Aber wie so ein Ding auf die Bühne bringen?

Eben das muss sich Pierre Audi auch gefragt haben, um nach längerem Meditieren über solcherlei Merk- und Denkwürdigkeiten des Komponisten, dem eine „heitere“ Oper mit „Happy End“ vorschwebte, auf die einzig richtige Lösung zu kommen. Anders als Groteske ist diese in Geschlechter- und Mentalitäten-Klischees rückprojizierte Geschichte schlechterdings nämlich kaum vorstellbar. Vor allem dem Herren-Duo Fausto Reinhart und Michael Dahmen ist heftigstes Augenzwinkern verordnet. Entschlossen gibt jener den schmierigen Gisela-Verführer, dieser den eifersüchtig-aufrechten Gisela-Verlobten in spe. Und so bekommt Audi, was er will – die Lacher auf seiner Seite. Denn, was tun, wenn sich laut Libretto (Michael Kerstan, Christian Lehnert) ausgerechnet der Fräulein-Aufreißer als Autor einer Germanistik-Dissertation zum Thema „Sex und Liebe im deutschen Kasperle-Theater“ outet? Voll krass. Doch Audi bleibt cool, zögert keine Sekunde und verbucht sämtliche Überdrehtheiten unter Commedia dell’Arte, deren derbe Tollheiten die Tanz- und Schauspielstudenten der Folkwang-Hochschule denn auch ganz superb hinlegen.

Dem stehen die übrigen Ausführenden in nichts nach. Da ist das Jugendensemble des Landesmusikrats NRW, das die Kölner musikFabrik verdienstvollerweise gecoacht und das in Gladbeck als „Studio musikFabrik“ eine ganz vorzügliche Figur gemacht hat. Dass die Streicher dabei leider buchstäblich an die Wand gespielt haben, dass das Seraphische aus der künstlichen Vertiefung nie ganz herauskam, bewies wieder einmal die Krux der Ruhrtriennale-Spielorte. Zwar mögen die Industrieruinen wie Intendant Willy Decker meint, Orte von „unglaublicher Kraft“ sein – ihre Akustik bleibt problematisch. Alles muss verstärkt werden, so dass die perfekte Klangbalance letztlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Kein Wunder, dass der engagiert navigierende Steven Sloane am Pult insofern auch nur relative Verfügungsmacht hatte. Solisten mit Headmikros sollten nicht zur Regel werden.

Wohl aber künftige Auftritte des Jugend-Kammerchors der Chorakademie Dortmund. Das tückische madrigaleske Gewebe, das Henze dem reflektierenden Chor anvertraut beziehungsweise zugemutet hatte, meisterten die Dortmunder Eleven ganz vorzüglich. Überdies alles auswendig, was der Verschmelzung ins Spiel ungemein entgegenkam. Wahrlich eine Entdeckung, dieser Chor. Zusammen mit Studio musikFabrik und Folkwang-Tanzstudenten das Fundament und die Berechtigung dieser waghalsigen Produktion. Auch wenn es in manchen Ohren altertümlich klingen mag, „für die Jugend“ zu schreiben – nur, wo gibt es das, repektive: wer traut sich das schon, Ausführende unter 25 zum Rückgrat einer kompletten Produktion zu erklären? Keine Frage, dass dies zu den Denkwürdigkeiten dieser Ruhrtriennale-Kreation gehört. Und kein unwesentliches Stück Vermächtnis, das Hans Werner Henze damit in die Wagschale wirft.

Wobei die Leistung der Auftraggeber darin bestand, diesem mit heißer Nadel gestrickten satyrhaftem Spätwerk dank schier unglaublichem Aufwand zum Erfolg geholfen zu haben. Der Schlüssel war der Blick für den architektonischen Charme der stillgelegten Maschinenhalle Zweckel. Dort hat Christof Hetzer mit den Stationen Neapel/Oberhausen einen schönen Bahnsteig hinein- und drei schwarze Riesenwürfel darübergebaut. Wenn diese sich heben, entstehen Spielflächen: ein Zugabteil, ein Theater-im-Theater, ein neapolitanischer Festsalon. Dazu die Höhen der Zuschauertribühne, die sich die Darsteller ebenso erobern wie die Tiefe der Gladbecker Halle. Das gibt vor allem dem Ersten Akt gehörigen Schwung, viel Tempo. Klar liegt die Heimmannschaft zur Halbzeit in Führung.

In der Zweiten wird auf Halten gespielt. Die Würfel sind jetzt Projektionsflächen – für Giselas Träume. Verschwunden damit auch die feine, luftige Zeichnung, mit der Henze seinen Orchestersatz zuvor ausgestattet hat. Und doch, auch jetzt, wenn Gisela Ihr Inneres durchschreitet, vom Märchen- bis zum Albtraum, ist der Komponist Hans Werner Henze auch wieder ganz er selbst. Wie schon in seinen Anfangsjahren als ein sich den päpstlichen Regeln der Avantgarde verweigernder Tonsetzer, greift er auch jetzt wieder nach traditionellem Material. Eigentümlich altmeisterlich klingen Bach’sche Triosonaten, wenn sie im verfremdeten Klanggewand von Vibraphon, Harfe, Kontrafagott, Synthesiszer daherkommen.

Hier spätestens stößt Audis Inszenierungsidee an ihre Grenzen. Für Giselas Doppelnatur, anbetungswürdiger Falter und Flittchen zugleich zu sein, hat dieses Libretto keinen Blick, weswegen sich auch Hanna Herfurtners lyrischer Sopran nicht ironisch brechen darf. Die Autoren mögen das Dilemma gespürt haben, weswegen sie schlussendlich den ältesten Theatertrick der Welt bemühen, um dem Spiel ein Ende zu bereiten: Vulkanus ex machina. In Gladbeck gibt es das Vesuv-Brummen indes als Videoflimmern. Recht herbstkräftig. Wie das Laub auf den Bäumen der Ruhrtriennale.

Weitere Termine: 2., 3., 6., 8.10., Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck

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