Es ist wirklich ganz fürchterlich. Und passiert immer wieder. Vor allem in den letzten Jahren auf großen Festivals und an renommierten Häusern. Man sitzt mindestens drei, im schlimmsten Fall auch mal über fünf Stunden im Theatersessel und lässt eine so genannte Ausgrabung über sich ergehen. Irgendein Intendant beauftragte studentische Hilfskräfte oder vermeintliche Experten mit dem Herumwühlen in staubigen Archiven, um den Spielplan mit einer Novität aufzurüsten. Interessanterweise steckt in „Ausgrabung“ ja auch das Wort „Grab“… Und selbst der allergeneigteste Zuhörer mag im einen oder anderen Fall darüber nachsinnen, ob nicht das Oeuvre des einen oder anderen Tonsetzers zu Recht in Frieden ruht.
Mit einiger Sorge geht man also ins Innsbrucker Landestheater: Francesco Provenzale? Schrieb der nicht Kirchenmusik? Ja, aber auch die kennt kaum jemand. Nur zwei weltliche Opern sind überliefert, darunter eine mit absolut unmöglicher Handlung. Es geht um das hübsche Mädel Stellidaura, die in einen kecken Ritter verliebt ist. Dumm nur, dass Fürst Orismondo sie auch begehrt. Drei Akte lang fließen nun diverse Säfte, vor allem Schweiß, Tränen und Blut. Und es läuft ein verwirrendes Spiel aus Verwandlungen, Verkleidungen, Verwechslungen ab. Stellidaura mutiert von der still leidenden Mitzi zur Florett schwingenden Amazone, die Herren erleben unterschiedlichste emotionale und körperliche Zustände. Dazu sorgen zwei Pagen für Wirbel, vor allem Orismondos Diener Giampetro, der ausschließlich ‚alt’-kalabrisch spricht bzw. singt.
Fast der gesamte zweite Aufzug besteht aus einer gigantischen Briefszene, die alle Onegins und Werthers in den Schatten stellt. Fast jeder schreibt jedem, doch die Nachrichten erreichen entweder den Verkehrten oder der Richtige bekommt sie in den falschen Hals. Am Schluss hat Stellidaura keine Lust mehr und trinkt Gift, welches sich jedoch als Schlafmittel entpuppt. In einer Mischung aus Romeo und Julia, Wälsungenblut und dem Finale von Nathan dem Weisen erkennen sich danach plötzlich Stellidaura und Orismondo als Geschwister, der Bruder gibt der Schwester den Segen zur Heirat mit dem Rittersmann.
Dieser Wahnsinn wurde Anno 1674 als Auftragswerk eines Adligen uraufgeführt, die Titelrolle interpretierte die berüchtigte Sängerin, Schauspielerin und vermutliche Kurtisane Giulia De Caro. Andrea Perrucci verzapfte den Text und Francesco Provenzale groß ihn in – grandiose – Musik. Provenzale (1624–1704) steht zwischen Monteverdi und dem goldenen Settecento Neapels, es gibt noch keine Da-Capo-Arien, aber wunderbar variierte Formen und Verzierungen.
Festwochen-Chef Alessandro de Marchi lässt mit seiner Academia Montis Regalis (wissenschaftlich unterstützt von Stefano Aresi und Francesco Cotticelli) ein wahres Feuerwerk an Farben und Effekten explodieren. Mit exquisiten Spezialinstrumenten wie einer Chitarra battente, einer Oktavmandoline oder dem ausufernden Schlagwerk entstehen eigenwillige, manchmal sehr raue Klanglandschaften. Man spürt in jedem Augenblick, wie durchdacht alles ist und wie intensiv hier gearbeitet wurde. Besonders schön sind Echoeffekte und die immer wieder gleichsam heran gezoomten tiefen, warmen Streicher.
Gut fügte sich das Sängerensemble ein, vor allem Hagen Matzeit als Diener Stellidauras und Adrian Strooper als verliebter Ritter. Carlo Allemanos Orismondo kämpfte ein wenig mit den Koloraturen. Jennifer Rivera sang die Titelpartie in der Höhe etwas zu scharf, sie überzeugte vor allem in der Mittellage. Enzo Capuano machte als Dialekt-Diener kleinere vokale Defizite durch brillantes Spiel wett.
Regisseur François De Carpentries siedelte das Treiben zwischen Barock und Gegenwart an. Es gibt bunt überdrehte Kostüme und ein Ambiente aus roten Säulen, Sternenhimmel, Weinreben. Oft gehen pralle Komödie und leichtfüßiger Tiefsinn Hand in Hand. Eine geschmackvolle, präzis gearbeitete Inszenierung für eine wirklich lohnende, verlebendigte Ausgrabung.