Die Opernsparte eines Theaterunternehmens wie das für die Städte Krefeld und Mönchengladbach zuständige befindet sich in einem Dilemma: Die für die Etatbewilligungen verantwortlichen kommunalen Gremien erwarten ebenso wie das überwiegende Abonnements-Publikum eine möglichst hohe „Akzeptanz“. Das heißt: die neuen Produktionen sollen „ankommen“ (und müssen daher in hohem Maß an „Bewährtem“ anknüpfen), die Inszenierungen dürfen anregend (aber nicht provozierend) ausfallen und die kulinarischen Komponenten sollen für eine hohe „Auslastung“ der angebotenen Sitzplätze sorgen.
Vor dem Hintergrund der Spar-Szenarien in den benachbarten niederrheinischen Städten Duisburg, Düsseldorf, Köln und Bonn (allesamt nur eine halbe oder eine Autostunde entfernt) müssen der Generalintendant Michael Grosse und der Geschäftsführer Reinhard Zeileis ebenso wie der GMD Graham Jackson erhebliche Vorsicht beim Angebot von Neuem walten lassen und bei der Wahl von Werken, die außerhalb des „klassischen“ Werk-Kanons liegen. Indem nun die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für ein dänisches Publikum geschriebene „Maskerade“ von Carl Nielsen (uraufgeführt an Det Kongelike Teater Kopenhagen 1906) aufs Programm gesetzt wurde, sollte mit einer heiteren Rarität gelockt werden.
Der 1865 auf der Insel Fünen geborene Nielsen war zunächst Geiger im Orchester des Königlichen Theaters, reüssierte aber bereits 1894 in Kopenhagen als Komponist mit seiner ersten Symphonie und insbesondere 1902 mit „Saul og David“, einem biblischen Drama, das mit gewaltigen polyphonen Chören oratorische Monumentalität aus dem Geist Georg Friedrich Händels und der bürgerlichen Oratorien-Tradition des 19. Jahrhunderts beschwor. Für seine zweite Oper „Maskerade“ griff der nun bereits ziemlich arrivierte Komponist, der kurz nach der Uraufführung dieses weltlich-heiteren „Gegenstücks“ zum Königlichen Kapellmeister aufrückte, auf die literarische Tradition seines Landes zurück – auf eine der Komödien, die Ludvig Baron Holberg zwischen 1722 und 1742 aus dem Geiste der Commedia dell’arte verfasst hatte und in denen auf altväterliche Weise „köstlicher Humor“ waltet.
In Holbergs Zeit ging es in Skandinavien um Konflikte zwischen rigidem, pietistischem Protestantismus (der aufs Elternrecht pochte und Sinnenfeindlichkeit zum göttlichen Gebot erklärte) und einem „neuen Jahrhundert“ der Aufklärung (die Selbstbestimmung der Individuen, auch der heranwachsenden, und Lebensfreude auf ihre bunten Fähnchen schrieb). Der Historismus des Sujets veranlasste Nielsen, der sich zu Beginn des „neuen Jahrhunderts“ auch mit skandinavischer Volksmusik befasst und „Volkslieder“ komponiert hatte, erneut zu ausführlichen und starken Rekursen auf altmeisterliche Satztechniken. Die „Maskerade“ reflektiert nicht nur längst aus der Mode gekommene Tanzformen wie Gavotte oder Folie d’Espagne, sondern weist durchgängig eine starke Affinität zu altväterlicher Schreibweise auf – Kontrapunkt für Fortgeschrittene. Es ist, als wäre der Weg Nielsens zum Konservatoriumsprofessor und Hochschulpräsidenten deutlich vorgezeichnet. Die musikalisch intonierte „Sinnenfreude“ weist einen grundordentlichen Zug auf und dominante Momente des Akademismus.
Die Ausstattung von Jürgen Kirner und Dietlind Konold suchten der protestantisch gedeckelten nordischen Sehnsucht nach südlicher besonnter Lebenslust durch ein überbordendes Angebot an teils moderneren optischen Reizen entgegenzuwirken – und Aron Stiehls Inszenierung setzte weniger auf prägnante Personenführung als zunehmend auf die Animation der Tableaus – hin zu überbordender Turbulenz. Begonnen hat die Produktion mit einer ruhig-beschaulichen Bleistiftzeichnung auf dem Vorhang: Skizze einer nordischen Uferlandschaft mit Booten und Datscha zur perlenden und trillernden Ouverture. Im Inneren des Häuschens erwachen der frisch verliebte junge Herr Leander (in Boxershorts) und sein Diener Henrik (auf der Matratze am Boden) gegen 17 Uhr, da sie am Vorabend etwas lang gefeiert haben. Sie machen sich im Saunabereich frisch. Der gestrenge Vater Jeronimus, Bürger zu Kopenhagen, der sich mit Herrn Leonard aus Slagelse bezüglich eines Heirats-Arrangements für dessen Tochter mit seinem Sohn auch unter der Dusche unterhält, verhängt Hausarrest über den in Herzensangelegenheiten auf Selbstbestimmungsrecht pochenden Filius und damit Ausgehverbot für den Abend. Das betrifft auch seine Gattin Magdelone, bleibt aber wirkungslos. Denn der als Wache aufgestellte Knecht wird von Henrik wegen kleiner Diebereien erpresst. Insbesondere, weil er einräumt, der Köchin die Jungfernschaft ‚gestohlen’ zu haben.
So trudeln denn alle, nachdem der in ein Hummerkostüm gesteckte Nachtwächter die Zeit angesagt hat, auf dem Maskenball ein. Der ist eine bunte Pracht. Aus ihr und der vorwaltenden Schlafanzug-Mode sticht Herr Leonard mit seinem Biene Maja-Kostüm hervor. Von Text und Handlung her gesehen, erst recht angesichts der dem Amusement von Carl Nielsen zugedachten Musik, handelt es sich um eine ganz überwiegend höchst sittsame Veranstaltung. Lediglich Mutter Magdelone, die ein wenig zu stark vorglühte, macht sich an die heiße Biene heran (dergleichen ist freilich noch keine Tragödie von shakespearschem oder auch nur von strindbergschem Ausmaß). Regisseur Stiehl ließ es in Krefeld zugehen wie auf der Bühne des Friedrichstadtpalasts vor vierzig Jahren. Inklusive Kissenschlacht. Wie verderblich die Ware Theaterhumor ist, wird nicht erst bei der Verfrachtung des gesamten Chors unter die große Decke eines extragroßen Grand Lit deutlich, unter der es dann zappelt und rappelt, sondern bereits in der Pause. Da erzählte der Nachtwächter-Hummer – kennen Sie den? – von zwei Männern in Himmel, von denen der eine erfror und der andere vor Freude starb. Nur weil der eine nicht im Kühlschrank nachsah.
Die sechs TänzerInnen, die mit einem Krebs-Ballett daran erinnerten, wie theaterselig die Zeiten waren, an denen selbst kleinere Häuser noch über ein Tanzensemble verfügten, machen ihre Sache so ordentlich wie der sehr klein besetzte (da schon drastisch heruntergesparte) Chor. Hayk Dèinyan und Satik Tumyan, die Eheleute Jeronimus, erweisen sich ebenso als Leistungsträger der Wiedererweckung der Nielen-Oper wie Eva Maria Günschmann (als Zofe Pernille) und Tobias Scharfenberg (als Henrik). Stimmliches Profil mit einem unangestrengten sympathischen Tenor entwickelt Michael Siemon (als Leander).
Er und die von ihm blindlings als Lösung fürs Leben erwählte Leonora (Debra Hays) entdecken, dass sie, die allein die Herzen zusammenführten, mit dieser impulsiven Entscheidung genau das erreichten, was die Altvorderen ausgeheckt hatten. So fallen reine Liebe und das Geld, über das man nicht spricht, auf die glücklichste Weise zusammen (wir wollen hier nicht argwöhnen, dass es Leonora nach einigen Jahren zumute ist und ergeht wie Mutter Magdelone). Noch haben, so scheint es, die beiden jungen Liebenden offensichtlich vom Gerappel und Gezappel der Leiber in mechanischer Lust um sie herum noch nichts mitbekommen: Nielsens Oper ist ein Märchen vom unschuldigen Leben auf der Schwelle zu einer neuen Zeit. Bei Lichte besehen ist nur das Problem, dass dies die von vorgestern ist und das Sex-Getue in und um das große Bett herum weder zur Veranschaulichung der Vorstellungswelt an der Schwelle zum 18. Jahrhundert geeignet erscheint noch für die ums Jahr 1906 oder gar für 2012.
Das Dilemma bleibt eine Diskrepanz: Die angestaubte Komödie, über der erbaulicher Gesang sich erhebt und die bunte starkbewegte Bilder übertönen, wird durch all die Animation im Kern nicht besser. Indem Produktionen wie diese jedwelches Problembewusstsein abschütteln, erfüllen sie das Gebot der „Akzeptanz“. Allerdings vertiefen sie dadurch den Spalt zu dem, was inzwischen seit Jahrzehnten als Kunst auf den Musiktheaterbühnen angesehen wird.
Weitere Vorstellungen: 16. Mai, 29. Mai, 02. Juni, 09. Juni, 22. Juni 2012, 24. Juni und 29. Juni im Theater Krefeld