Sollte je der Roman einer Oper geschrieben werden, könnte sich dieser in phantastischer Weise um „Les Contes d’Hoffmann“ ranken. Lange schien es, als liege kein Segen auf dem kompositorischen Vermächtnis von Jacques Offenbach – auf der bei seinem Tod am 5. Oktober 1880 bis zur Mitte des 4. Akts vollendeten, am Ende aber doch noch unfertigen Fantastischen Oper.
Die Uraufführung Anfang Februar 1881 wurde zwar durch die wirtschaftlichen Interessen des Pariser Theaterdirektors Carvalho und ein von diesem in Auftrag gegebenes Arrangement des Kapellmeisters und Komponisten Ernest Guiraud ermöglicht. Doch seither haben die vier Elemente die von Anfang an nicht systematisch und sicher aufbewahrten Manuskripte mehrfach schwer ramponiert.
Nach einem Brand während einer „Hoffmann“-Vorstellung am 8. Dezember 1881 im Wiener Ringtheater war neben 384 Menschenleben auch der Verlust des Aufführungsmaterials zu beklagen. Das wurde sechs Jahre später ein weiteres Mal durch ein Schadensfeuer in der Opéra-Comique an der Rue Favart dezimiert. Was danach noch übrig war, wurde vom Winde verweht, teilweise von Sammlern weggeschlossen und später gelegentlich vom antiquarischen Notenhandel vertickt. Womöglich ging auch kriegsbedingt noch das eine oder andere Blatt verschütt. Das Material einer von Herbert Wernickes vorbildlich konzipierten neuen „Hoffmann“-Fassung verflüchtigte sich 1987 beim Brand des Frankfurter Opernhauses zur schwarzen Rauchwolke. Die jüngsten Einbußen stellten sich wohl 2009 mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs ein, bei dem auch die Offenbach-Sammlung mit den Erdmassen in die Tiefen gestürzt und ins kalte Brackwasser getaucht wurden.
Zum Ausgleich für teilweise unwiederbringbar Verlorenes komponierten emsige Theaterleute gelegentlich wieder etwas hinzu (z.B. das große Septett im Giulietta-Akt). Fritz Oeser versuchte in den 1970er Jahren, aus den unsterblichen Überresten des Werks eine kritische Gesamtausgabe zu erstellen; sie hat seit 1977 die Aufführungsgeschichte bestimmt. Aber diese Edition erwies sich nicht als ‚gesamt’ und kritisch nur in dem Sinn, als der Herausgeber es sich nicht verkneifen konnte, wiederum selbst noch so manches hinzuzuschreiben. Robert Didion, der einen weiteren Anlauf unternahm zur Sichtung und Edition dessen, was noch zu rekonstruieren war, starb über der aufwändigen Arbeit.
Dem Übelstand hinsichtlich der Quellenlage wurde dann Abhilfe geschaffen durch eine Neuausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck, die lange rivalisierten und schließlich doch am gemeinsamen Strang zogen (womöglich unter sanftem Druck des Verlags). Gestützt auf die Kaye/Keck-Edition haben der Dramaturg Norbert Abels, der Dirigent Stefan Soltesz und der Regisseur Dietrich Hilsdorf eine (auf die Rezitative verzichtende) straffe und stringente Version für das Aalto Theater Essen entwickelt – unter Verwendung des der Zensur vorgelegten Librettos: Ein Bekenntnis zur Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen.
„Les Contes d’Hoffmann“ von Jules Barbier, Michel Carré und Jacques Offenbach dürfen als eines der großen Sehnsuchtspotentiale der Operngeschichte genommen werden, gerade weil dieses Werk von dem durch den Tod doppelt heimgesuchten Autoren-Trio keine definitive Werkgestalt erhielt und sich die Nachwelt immer wieder einen Reim darauf machen kann. „Hoffmanns Erzählungen“ – dieser Torso ist eine der großen Literaturopern in doppeltem Sinn. Es ist Musiktheater, das Leben und Werk eines bedeutenden Autors „popularisiert“. Zu diesem Zweck wurden von den französischen Theaterdichtern in eine auf den Opernenthusiasten, Komponisten, Kapellmeister und Maschinisten E.Th.A. Hoffmann anspielende Rahmenhandlung drei eskalierende Liebesgeschichten eingeflochten, bei denen es auf hohem literarischen Niveau jeweils um unterschiedliche Aspekte von Kunst und Leben geht. Und bei denen es allemal nicht mit rechten Dingen zugeht.
Daß Hoffmann sich in Olympia verlieben kann, hat delikate psychologische und raffinierte physikalische Voraussetzungen; daß diese Episode so gewaltsam endet, liegt am Zusammenbruch eines Bankhauses (hat mithin ökonomische Ursachen, die bis heute nicht aus der Welt verschwunden sind). Im Haushalt von Rat Crespel und dessen Tochter Antonia geht es nicht zuletzt um Gewalt des Erziehungsberechtigten und um eine ärztliche Fehlbehandlung mit Todesfolge. Und im Giulietta-Akt begeht der lebens- und liebeshungrige Poet aus den Tiefen der deutschen Lande und Seelen zwei Tötungsdelikte in Venedig. Romantisch an all dem ist lediglich, daß die Handlung und Erzählungen auf Nachtseiten der menschlichen Seele und eine besondere Todesverbundenheit abheben.
Dietrich Hilsdorfs Essener Inszenierung zeigt die unter wechselnden Umständen eintretenden fünf Todesfälle klar und eindrücklich – den der Kunstmenschin Olympia durch einen geprellten Lieferanten, den der an der Karriere gehinderten Sängerin Antonia und ihrer als Diva gestorbenen Mutter (deren Sarg noch nicht geschlossen ist), den des um seinen Schatten gebrachten Peter Schlemil und schließlich Hoffmanns Eifersuchtsmord an der „Mißgeburt“ Pitichinaccio. Auch unterdrückt Hilsdorf Hoffmanns Verbundenheit mit dem Alkohol nicht: von Akt zu Akt steht eine Flasche mehr auf dem Tischchen, das zusammen mit dem Klavier die leere Bühne rahmt (der Chor singt weitgehend von den Seitenrändern des Parketts aus).
Nur der von Johannes Leiacker unterschiedlich geraffte rote Vorhang und ein Fenster als Markierung der Grenzlinie zwischen drinnen und draußen strukturieren das Spielfeld der analytischen Erkundung, der Liebesemphasen des Dichters sowie der gekünstelten bzw. echten seiner Partnerinnen. Deren Partien werden von der als Darstellerin brillanten Rebecca Nelson gut, von Olga Mytytenko und Ieva Prudnikovaite vorzüglich gesungen. Und der lässig-souveräne Thomas Piffka ist in der Titelpartie ein von Leib und mit Seele überzeugender neudeutscher Dichter, dem nur in den Höhen ein wenig romanische Tenorstrahlkraft abgeht. Stark aufgewertet erscheint die Partie der Muse/Niklausse, die Michaela Selinger mit vorzüglich geführter Stimme und hohem Körpereinsatz optimal gestaltet – sie erscheint als Galionsfigur der Belle-époque.
Hilsdorfs Personenführung näherte die Rolle der Muse jener der „Öffentlichen Meinung“ aus „Orphée aux enfers“ an und choreographierte die zum Singen und Tanzen gebrachte „Puppe“ virtuos (wenn ihr die Luft ausgeht, helfen ihr die unterm Tischchen versteckten Sauerstoff-Flaschen wieder auf die Beine). Bevor Crespel das Haus verläßt, schnürt er seine Tochter ein wie ein echt orientalisch sozialisierter Familientyrann und Dr. Mirakel bringt die tote Mutter der Antonia mit einem über deren Bauch streichenden Geigenbogen zum Aufbäumen und Singen aus dem Sarg. Eindrucksvoll antwortet in Essen der durch die unbändige Liebe zur Musik eintretende Tod Antonias, dieser Meister aus der Tiefe der großen Berliner Literatur, auf die sächselnden Liebestode der Wagnerschen Primadonnen, die bei kühlem Licht betrachtet doch allemal philosophisch-theatraler Pfusch bleiben. Stefan Soltesz sekundiert der bemerkenswerten Ensemble-Leistung seiner SängerInnen und dem bestens aufgestellten Chor, indem er Offenbachs Leichtigkeit zum großen Zug kommen läßt.
Konsequent ist, daß in der Essener Produktion die Primadonna Stella in der Rahmenhandlung nicht leibhaftig auftaucht – Offenbach hat nichts für sie komponiert. Während Hoffmanns Revolver beim finalen Suizid-Versuch versagt und nur ein klägliches Krick-krack von sich gibt (das Krick-krack des Zwergs Klein-Zack eben), geht Thomas J. Mayer als fulminanter Gegenspieler – Stadtrat Lindorf, Instrumentenhändler, krimineller Arzt und Kapitän in einer Person – mit allen drei wiedererstandenen Frauen des Hoffmannschen Begehrens ab durch die Mitte. Die kühl-blonde Muse hat sichtlich kein libidinöses Verhältnis zum Intellektuellen Hoffmann, sondern ein geschäftliches: er soll als Bestseller-Autor funktionieren und Umsatzsteigerungen herbeiführen (das Menschenwrack scheint ihr ziemlich egal zu sein). Aber diese Literaturagentin hat dann doch die Rechnung ohne den Suchtkranken gemacht: Zum „des cendres de ton cœur“ überwölbt die Orgel mit herrlichem Mixturklang den süßlichen Todesgeruch des Finalchors der unsichtbaren Geister. Dietrich Hilsdorf und Stefan Soltesz haben Hoffmanns neue Meistererzählungen auf den Weg gebracht und unter Beweis gestellt, daß Essen derzeit immer noch über das leistungsfähigste Opernhaus im Nordwesten der Republik verfügt.